Statistik meiner Pilgerreise auf der Via Francigena

 

Ich bin in Rom angekommen.  Nachfolgend mein Weg und meine Statistiken.

Am Morgen meiner Abreise war ich noch im Petersdom. Um 07:00 Uhr hat man ihn fast alleine. Er beeindruckt durch seine schiere Größe.

Die Schlüssel der Apostel Petrus und Paulus sind im Eingang des Petersdom in einer Bodenplatte eingelassen. Nun bin ich tatsächlich am Ende meiner Pilgerfahrt angekommen.

Mein Rucksack hatte ein Gewicht von 9,1 kg als ich in Lausanne aufgebrochen bin. In Rom angekommen hatte er nur noch 5,8 kg. In Pavia und in Sant’Andrea Bagni (Parma) habe ich eine Reihe von Gegenständen deponiert. In Pavia waren es die warmen Anziehsachen und der Schlafsack und in Parma blieb alles, was nicht wirklich dringend benötigt wurde. Wieder einmal hat sich gezeigt, wie wenig Dinge ich benötige, um glücklich zu sein.

In Summe bin ich gut  1.200 km gepilgert mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 5 km/h. In Summe habe ich eine Höhe von mehr als 22 km im Schnitt gut 500 m täglich.

Dabei habe ich in Summe 71.000 kKalorien verbraucht (knapp 1.700 kKalorien pro Tag) und 124 Liter Flüssigkeit (knapp 3 Liter pro Tag) verloren.

Ich habe etwa 10 Packungen Blasenpflaster der Marke Compeed verbraucht.

Schuhe und Strümpfe habe ich auch mehrfach gewechselt. Ich habe 4 Paarwanderschuhe genutzt. Die längste Strecke bin ich zum Schluss mit einem Sportschuh von Meindl mit einer Goretex Membran und Socken von Icebreaker gelaufen. Am bequemsten waren meine Adidas, in den ich aber so viele Blasen bekommen habe, dass sie mich schweren Herzens von ihnen getrennt habe. Zu Beginn hatte ich einen Bergschuh (Halbschuh) von Lowa, den ich nach der Alpenüberquerung aber durch einen leichteren Sportschuh, einer Marke die ich mir nicht merken konnte,  ersetzt habe.

 

Tag 42: 23.06.17

 

Der Weg in die Kapitale Rom ist viel schöner als erwartet. Ich bin davon ausgegangen, dass ich durch unendliche Industrie- und Gewerbegebiete laufen muss. Statt dessen pilgere ich nun durch verwilderte Parklandschaften und später hoch zum Monte Mario durch Wälder und Wiesen, von wo ich einen fantastischen Blick auf die Stadt und den Vatikan habe. Dominant ragt die Kuppel des St. Petersdom aus den Häuserreihen Roms heraus. Der Blick erzeugt eine große Vorfreude auf das Ankommen. Ich mache schon mal ein Selfie; wer weiß, ob das später auf dem St. Petersplatz noch möglich sein wird.

In der Innenstadt angekommen, suche ich zunächst eine Bar auf. Ich muss mich noch einmal stärken, bevor ich die restlichen beiden Kilometer in Angriff nehme. Vielleicht will ich das Ende meiner Pilgerfahrt auch noch ein wenig herauszögern?

Schnurgerade spaziere ich auf der Via Ottaviano von Norden auf den Vatikan zu. Ständig werde ich von „offiziellen“ Führern angesprochen, dass dies der falsche Weg zum St. Petersplatz sei. Sie alle wollen mir am Ende eine Führung verkaufen und versprechen, einen an den Schlangen von Wartenden vorbei direkt in den St. Petersdom zu bringen.

Ich erwehre mich dieser Geschäftemacher, denn bevor ich den Dom besichtige, muss ich erst einmal ins Pilgerzentrum und mir mein Testimonium ausstellen lassen. Aber als erstes möchte das Ende meiner Pilgerfahrt feiern. Ich setze mich auf dem großen Platz auf eine Stufe und lasse mich von der Sonne anstrahlen. Danach gibt es noch ein Selfie.

Jetzt muss ich mich sputen, denn das Deutschsprachige Pilgerzentrum schließt gleich und liegt auf der anderen Seite des Tibers in der Nähe der Engelsburg. Da gerade zwei Soldaten der Schweizergarde vorbei kommen, muss denen warm sein in diesen Uniformen, frage ich, ob es auf dem St. Petersplatz ein internationales Pilgerzentrum gibt. Gibt es tatsächlich und das hat sogar ganztägig geöffnet. Also begebe ich mich in die Opera Romana Pellegrinaggi. Dort erhalte ich meinen letzten Stempel in meinen Pilgerpass und mein Testimonium.

Da ich gesehen habe, dass sich spiralförmig die Besucher des Petersdoms auf dem Petersplatz aufreihen, frage ich, ob es eine Möglichkeit als Pilger gibt, an der Schlange vorbei in die Kathedrale zu kommen. Das ist leider nicht möglich. Der Dom öffnet morgens bereits um 07:00 Uhr und da habe ich den Dom für mich, lautet die Empfehlung. Also gut: morgen muss ich nochmal früh aufstehen. Denn ich stelle mich keine vier Stunden, so lange müsse man wohl mindestens kalkulieren – vielleicht auch eine Stunde länger – erfahre ich von der Empfangsdame des Deutschen Pilgerzentrums, in dem ich dann noch vorbei schaue.

Ich hatte erwartet, dass man dort freudig begrüßt wird. Das ist nicht der Fall; die wollen schließen und ich stehe Ihnen dazu im Weg, obwohl nach meiner Vermutung im Schnitt nicht einmal ein Deutscher Pilger pro Tag ankommt. Also verschwinde ich schleunigst und checke in mein Hotel ein, das keine 100 m vom Zugang zum St. Petersplatz liegt. Ich finde es schade, dass in Rom keine Willkommenskultur für Pilger existiert, nicht einmal ein Gottesdienst. Das war in Santiago de Compostela ganz anders.

Rom erwartet niemand – noch nicht einmal mich!

Ich freue mich trotzdem, dass nun meine Pilgerfahrt nach 42 Tagen und über 1.200 Kilometern zu Ende gegangen ist.

Am Abend spaziere ich vom Vatikan zum Trevi Brunnen und von dort weiter zur Spanischen Treppe, um alles, was so rechts und links des Weges liegt, wie das Parthenon und das Augustus Kolosseum, zu besichtigen. Ich starte erst kurz vor acht,  in der irrigen Annahme es wird leerer. Rom ist sicher eine wunderschöne Stadt, mir nur viel zu überlaufen.

In einer Enoteca trinke ich ein Glas Wein und esse einige Kleinigkeiten Auf dem Rückweg in der Nähe des Justizpalastes. Hier ist es deutlich ruhiger und die Preise sind akzeptabel. Da mein Hotel direkt am Vatikan gelegen ist, gehe ich in der Dämmerung noch einmal auf den Petersplatz. Es sind kaum noch Touristen auf dem Platz, so dass ich ihn in Ruhe aus verschiedensten Perspektiven bestaunen kann. Denn er ist ein Staunen. Mich begeistert, was Menschen in der Lage sind zu erschaffen. Was für eine Schönheit. Das ist überwältigend und ehrt nicht Gott sondern uns Menschen, besonders diejenigen, die ihn geschaffen haben.

Ich kann mich gar nicht satt sehen! Jeder Meter, den ich gepilgert bin, hat sich gelohnt, nur um hier zu stehen und zu staunen: veni, vidi, miravi!

Rom hier bin ich!

 

Tag 41: 22.06.17

 

Heute bin ich faul und mache kaum Fotos. Das liegt auch daran, dass meine Aufmerksamkeit vom Verkehr gefordert ist. Den gesamten Tag laufe ich auf engen, kurvenreichen und viel befahrenen Straßen. Da vermutlich die Hälfte aller Fahrer mit Handy am Ohr während der Fahrt telefoniert, muss ich höllisch aufpassen. Immer wieder donnern Autos mit hoher Geschwindigkeit dicht an mir vorbei. Manche kommen mir so nahe, dass ich von Ihnen regelrecht angesaugt werde und ich mich dagegen stemmen muss. Busses sind meine gefährlichsten „Gegnerr“. Sie scheinen es zu lieben, besonders dicht an Fußgängern vorbei zu fahren und aufgrund der großen Fläche ist die Anziehungskraft besonders groß: meine Erlebnisse spiegeln mein theoretisches Wissen aus dem Physikunterricht wider. Busfahrern lerne ich besonders schätzen, da sie sich nicht nur rücksichtslos verhalten sondern mich auch noch anhupen. Was denken die sich?

Nicht nur der Verkehr fordert mich, auch die Sonne ist eine höllische Herausforderung. Sie brennt ohne Unterlass. So häufig wie heute habe ich noch nie Pausen eingelegt. Manchmal falle ich schon nach drei Kilometern wieder in ein Bar und trinke einen halben Liter Wasser und zusätzlich Pomelosaft. Interessanterweise gibt es den seit ein paar Tagen in jeder Bar. Der Saft hat den Vorteil, dass er nicht gesüßt wird, wie die anderen Säfte, die sonst so angeboten werden. Lieblingssäfte der Italiener scheinen Pfirsich und Birne zu sein. Die gibt es wirklich überall. Sie taugen nicht als Furstlöscher, da sie viel zu sämig und süß sind. Was es auch oft gibt, ist Orangensaft aus sizilianischen Blutorangen, der mit Traubensaft gesüßt ist. Das schmeckt zwar gut, löscht aber ebenfalls nicht meinen Durst. Insofern ist Pomelosaft mit Wasser kombiniert zu meinem Favoriten geworden.

In La Storta, dem letzten offiziellen Halt, treffe ich wieder auf die Via Francigena. Hier mache ich mal ein Foto von der Kathedrale. Obwohl der Bischofssitz sich direkt daneben befindet, ist alles geschlossen. Die Buben werden auch immer fauler.

So nun sind es noch fünf Kilometer bis zu meiner Wirtin. Ich habe ein Wohnung im Garten einer Familie. Sehr amateurhaft haben die Leute eine Bretterbude zusammengenagelt, die sie vermieten. Der Garten ist großartig und die Wirtin sehr charmant. So fühle ich mich trotz minderwertigster Bauqualität sehr wohl und kann mich von den 34 Kilometern bei Verkehr und Sonne bestens erholen.

Ich bin jetzt weniger als 15 Kilometer vor meinem Ziel. Ich buche nun ein Boutiquehotel 200 m vom St. Petersplatz entfernt. Kurze Wege sind das wichtigste Kriterium für die Wahl des Hotels. Ich kann Laufen einfach nicht leiden!

Rom erwartet mich! Rom ich komme!

Tag 40: 21.06.17

 

Der gestrige Tag steckt mir noch in den Beinen. Meine Füße und Beine sind der Meinung, sie haben noch nicht hinreichend geruht und wollen, dass ich noch etwas schlafe. Ich mache ihnen klar, dass ein toughes Programm vor ihnen liegt und es besser ist, jetzt aufzustehen. Widerwillig folgen sie.

Nach knapp zwei Kilometer bin ich in Versalla. Wieder so ein Ort, der vernachlässigt und irgendwie schmutzig wirkt. Als Erinnerung fotografiere ich die Kirche. Sie hat etwas großzügiges an sich und ist innen so völlig anders als der Ort selbst.

Ich verweile nicht lange und mache mich auf nach Sutri. Sutri ist ein Ort aus der Antike mit einem weitgehend erhaltenen Amphitheater und einem mittelalterlichen Stadtkern auf einem Tuffsteinhügel. Ich laufe durch nicht enden wollende Felder mit, wie ich vermute, Nussbäumen auf weichen sandigen Wegen. Das freut meine Füße, ist der Boden weiche und federnd. Nach etwa fünfzehn Kilometer komme ich in einen kleinen mittelalterlichen Ort, der auf meiner Wnaderkarten-App keinen Namen hat. Nach der Maps-App muss es sich um Capranica handeln.

Kaum habe ich diesen schönen Ort verlassen, führt der Weg über kleinste Pfade entlang eines Flüsschens durch einen dichten vernachlässigten Wald.

Die Bäume sprechen miteinander und kündigen mich an. Der Wind bewegt sehr selektiv die Baumwipfel, so als würden sie Laola Wellen machen, startend, wo ich mich gerade befinde und weiter bis ich sie aus den Augen verliere. Es wimmelt von Eidechsen, die sobald ich in ihre Nähe komme, flink davon rasen. Das erzeugt ein Rascheln im Rhythmus der Loala Wellen. Der Wald redet über mich. Als hätte ich einen sechsten Sinn, fühle ich mich in die Kommunikation eingebunden und versuche mitzuteilen, dass von mir keine Gefahr ausgeht. Ich bin eins mit der Natur.

Als ich aus dem Wald komme, schaue ich auf Sutri, das von hier beeindruckend wirkt. Es hat sicher auch schon bessere Tage erlebt. Aufgrund der engen Bebauung sind die Ausmaße der Kathedrale hoch oben auf dem Berg gar nicht richtig zu erkennen. Innen ist sie umwerfend.

Jetzt muss ich eine Entscheidung treffen. Ich habe jetzt 27 Kilometer auf der Uhr. Ich fühle mich noch fit für weitere zehn Kilometer, die ich auch bräuchte, um am Freitag Mittag in Rom zu sein. Andererseits steckt mir der gestrige Tag noch in den Knochen. Das Problem ist, folge ich dem offiziellen Weg, gibt es nur Unterkünfte in der näheren Umgebung oder erst wieder in 17 Kilometern. Das ist mir definitiv zu viel. Ich kann aber auch den Weg verlassen und nach Süden zu einem See wandern. Dort gibt es hinreichend Unterkünfte in einer Entfernung von 12 Kilometern mit dem Vorteil, dass ich von dort nur noch knapp 30 Kilometer für mein morgiges Ziel hätte. Ich resümiere. Option 1: ich mache jetzt Schluss und verliere einen Tag (sehr verlockend), Option 2: ich muss heute 44 Kilometer gehen (Horror), Option 3: knapp 40 Kilometer und von jetzt bis morgen Nachmittag fern ab des Via Francigena (schaffe ich das wirklich?) Ich mache mir die Option 3 damit schmackhaft, dass ich mich mit einen Sprung in den See belohnen kann und entscheide mich für Option 3.

Jetzt führt meine Pilgerfahrt mich wieder durch Felder von Nussbäumen – ich weiß natürlich noch immer nicht, ob es sich tatsächlich um Nussbäume handelt – und in die Berge. Ich muss wieder hoch von 300 m üNN auf über 500 m üNN, um am Ende runter zum See auf 200 m üNN. Der Blick auf den See entschädigt für alles.

Ich komme in einen sehr lebendigen Ort mit einer tollen Promenade. Mein Hotel hat eine super Lage. Ich kann direkt auf den See schauen. Viel unternehme ich nicht mehr – der Sprung ins Wasser fällt ins Wasser – obwohl Life Bands Musik machen und ab zehn Uhr die Straßen voll sind. Es herrscht eine sehr angenehm entspannte Atmosphäre.

Gute Entscheidung!

Tag 39: 20.06.17

 

Dass ich vom Weg abgewichen bin und mir es habe am Lago di Bolsena gut gehen lassen, muss ich heute Morgen büßen. Zwölf Kilometer auf einer stark befahrenen Straße sind zermürbend. Dann bin endlich zurück auf der Via Francigena. Das ist allerdings auch nicht viel besser, da ich nun Staub ohne Ende schlucken darf. Bis ich in Viterbo ankomme, habe ich vom Sand graue Haare, ok die hatte ich auch vorher schon.

Beim Einlaufen nach Viterbo, treffe ich auf ein Pilgerpärchen aus Frankreich, das ich schon gestern einmal überholt hatte. Sie hat gigantische Schuhe an und er trägt einen über dimensionalen Rucksack – btw. mein Rucksack ist nur halb so voll wie ihrer. Mit dem Equipment würde ich auch nicht vorwärts kommen. Obwohl es erst kurz nach zwölf ist, hat sie die Nase voll und will unbedingt in Viterbo übernachten. Ich bin mir noch nicht sicher, was ich mache. Ich bin bereits 23 Kilometer gelaufen, fühle mich dennoch fit für ein paar weitere Kilometer.

So schaue ich mir erst einmal die Stadt an. Trotz Bischofsitz und einer Kathedrale wirkt die Stadt und vor allem die kirchlichen Bauten herunter gekommen. Es ist alles geschlossen, so dass ich noch nicht einmal in die Kathedrale kann: ungewöhnlich üblicherweise sind die Kirchen und vor allem die Kathedralen in den bedeutenderen Orten immer geöffnet. Mir gefällt es hier nicht.

Ich suche mir eine Bar und mache Pläne für den restlichen Tag. Die nächste offizielle Station ist Vetralla weitere gut 16 Kilometer entfernt. Das scheint mir doch ein bisschen weit. So suche ich eine Unterkunft vor Vetralla. Viele Möglichkeiten gibt es nicht. Ich buche letztlich ein kleines Hotel mit Restaurant, das auf einem großen Grundstück vor den Toren Vetrallas gelegen ist.

So nun muss ich los, das wird noch hart. Der Weg ist erstaunlich schön. Ich laufe durch Schluchten von Sandsteinen. Das ist beeindruckend! Später geht es auf Wirtschaftswegen durch unendliche Felder mit Olivenbäumen und so mancherlei anderem „Kraut“.

Nach gut 38 Kilometern habe ich es geschafft. Die letzten beiden davon waren, ich gebe es gerne zu, eine Quälerei. Ich hoffe, ich habe mir nicht wieder neue Blasen gelaufen, die vorhandenen reichen mir.

Ich setze mich noch, völlig erschöpft, eine gute Stunde in den Garten und mache Pläne für den restlichen Weg. Es sind jetzt noch knapp 90 Kilometer. Bis Vatikan-Stadt. Am liebsten wäre mir eine Aufteilung von zweimal 35 und zum Abschluss noch einmal 20 Kilometer. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich morgen wirklich 35 Kilometer bewältigen kann.

So nun ist es spät genug. Ich muss dringend etwas essen. Alle anderen Hotelgäste sind schon im Restaurant. Irgendwie geht es gar nicht vorwärts. Ich bekomme nichts zu trinken und nicht mal die Karte. Dann geht es Schlag auf Schlag: Wasser kommt, Wein kommt in Karaffen sowohl weiß als auch rot – ungefragt. Eine Karte gibt es nicht, die Bedienung erklärt mir, es gibt ein Menü und ich darf wählen bei der Vorspeise zwischen einer Fisch- und einer Fleisch-Pasta und beim Hauptgericht zwischen Kaninchen und Forelle. Würde sie weniger schnell sprechen, hätte ich es deutlich einfacher, sie zu verstehen. Ich wähle, nach dem ihre Worte mein Gehirn und nicht ausschließlich mein Gehör erreicht haben, jeweils die Fisch Variante. Da alle im Restaurant gleichzeitig ihr Essen bekommen, steht die Vorspeise, kaum habe ich meine Wahl getroffen, auf dem Tisch. Mit der Hauptspeise dauert es dann eine Weile und ich muss aufpassen, nicht die Karaffe Weißwein auszutrinken. Tue ich das, bin ich morgen lahm wie eine Ente und werde meine Ziele nie erreichen.

Tag 38: 19.06.17

 

Easy Going: Der Weg von San Lorenzo nach Bolsena mit ständigem Blick auf den See ist ein Genuss.

Im Nord Westen von Bolsena steht mit seiner ganzen Masse die Burg und im Hintergrund ist der satt blaue Lago di Bolsena zu sehen.

Durch enge Gassen, die hier auch geschmückt sind, gelange ich zum Süd Ost Ende der Stadt, wo die Kirche den Ort dominiert. In der dortigen Krypta ist die heilige Christina aufgebahrt, auf die, wenn ich die Hinweistafeln richtig verstehe, ein Blutwunder aus dem vierten Jahrhundert zurück geht.

Die Wegstrecke nach Bolsena war kürzer als erwartet, also buche ich jetzt, ein Hotel am Südende des Sees direkt am Ufer. Es sollten nicht mehr als dreißig Kilometer in Summe werden.

Auch der Abschnitt des Weges von Bolsena nach Montefiascone, wo sich das Hotel befindet, bewältige ich ohne große Anstrengung. Heute läuft es. Da ich Zeit habe, lege ich eine Pause in den Bergen ein. Ein kleines Flüsschen stürzt wild den Berg hinunter. Dort steht im Schatten eine Parkbank. Genau das richtige für ein Mittagsschläfchen.

Nach einer Stunde erholsamen Schlafs, biege ich von der Via Francigena ab und gehe über sehr sandige Wege hinunter zum See. Dort führt zunächst ein Weg später eine Straße am Ufer entlang. Hier kommen die Einheimischen hin, machen Picknick, baden, sonnen sich, angeln und drei Schülerinnen machen ihre Hausaufgaben.

Mein Hotel hat eine fantastische Lage. Ein großer Garten mit einem Schwimmbad grenzt an den See. Es ist alles nur ein bisschen verlottert. Was könnte man aus diesem Anwesen machen?!

Mir gehen heute mal wieder viele Gedanken durch den Kopf. Angestoßen durch die mutige Entscheidung Frankreichs einen neuen, jungen Präsidenten zu wählen und dessen Partei mit meist weitgehend politischen Amateuren ihre Stimme zu geben, glaube ich, wir stehen mal wieder vor großen, und ich bin mir dabei sicher, positiven gesellschaftspolitischen Veränderungen. Die Wahlen in den USA im vergangenen Herbst sind kein Gegenbeweis: in Zeiten des Umbruchs gelingt es immer wieder erzkonservativen und retardierenden Persönlichkeiten die Stimmen der Verängstigten einzusammeln. Das ist am Ende nur ein Aufbäumen und wird die Veränderungen nicht aufhalten können. Ich fühle mich in meinen Gedanken auch durch die Vorgänge in England bestätigt. Ein knappes Ergebnis vor einem Jahr für den Rückschritt und nun das große Debakel für das Rückständige. Mich würde es nicht überraschen, wenn nach zwei Jahren des Verhandelns der Exit vom Brexit das Ergebnis sein wird.

Was wird das Neue sein? Hier gibt es viele Fragestellungen, die wir in der nahen Zukunft völlig anders bewerten werden als zur Zeit. Dazu gehören Themen wie: Auflösung der Nationalstaaten in Europa in der heutigen Form, Transformation des Mittleren Osten, Völkerwanderung und Teilen unseres Wohlstandes, Umweltschutz, Bildungssysteme, Gesundheit und Management und vieles mehr. Also genug Themen über die ich in meinen letzten Tagen auf der Via Francigena nachdenken kann.

Tag 37: 18.06.17

 

Der Wind, der gestern Nachmittag auf kam, bläst immer noch kräftig. Er nimmt an Stärke über den Tag hinweg weiter zu. Das ist sehr angenehm. So spüre ich die alles verglühende Sonne kaum. Es ist ein wunderschöner Wandertag.

Nach einer Stunde überquere ich einen namenlosen Fluss und ich bin im Lazio. Die letzte Provinz auf meiner Pilgerfahrt. Ich habe in den vergangenen sechs Wochen eine Reihe von Provinzen durchquert: Wallis, Aostatal, Piemont, Lombardei, Emilia Romana, Ligurien, Toskana und nun zum Abschluss Lazio. Rom ich komme!

Ohne Mühen erreiche ich nach zwanzig Kilometer Acquapendente. Ich fühle mich super gut und lege noch einmal gut zehn Kilometer nach und komme so bis nach San Lorenzo Nuovo. Von hier kann ich bereits den Lago di Bolsena sehe. Für morgen nehme ich mir vor, ein wenig vom offiziellen Weg abzuweichen und am Seeufer entlang zu wandern, um am Südende des Sees zu übernachten.

Ich habe fast das Gefühl auf dem Camino Frances in Nordspanien zu sein. Seit ich das Lazio erreicht habe, werden die Pilger umworben. Bars sind auf Rande des Weges aufgebaut und so heißt meine Pension bezeichnenderweise La Francigena.

Die Landschaft ist im Moment von Feldern mit Getreide, Gemüse und Sonnenblumen gekennzeichnet. Die meisten Getreidefelder sind bereits abgeerntet und ich könnte mir vorstellen, dass man noch eine zweite Ernte im Jahr einfahren könnte. Die Gemüsefelder werden intensiv bewässert. Am Rande der Wege gibt es in regelmäßigen Abständen kleine Häuschen mit Pumpstationen, an die über lange Schläuche dezentrale Bewässerungsanlagen angeschlossen sind. Ich muss aufpassen, nicht von den weitreichenden Wassersprühern erfasst zu werden. Der Wasserdruck dieser Sprühköpfe ist enorm.

Das viele Wasser scheint die Mücken anzulocken. Ich werde von Mücken über viele Kilometer begleitet. Zumindest habe ich das Gefühl, es sind immer die selben Viecher, die mich piesacken. Die Vampire stechen und saugen mich aus. Trotz langer Hose habe ich Stiche an den Unterschenkel und sogar im Gesicht. Die sind wohl wahnsinnig geworden.

Acquapendente ist ein altes Städtchen auf einem Hügel, wie ich sie in den letzten Tagen oft gesehen habe, mit dem Unterschied, dass alte Bausubstanz in der Vergangenheit vernichtet und durch neue ersetzt wurde. Das macht die Stadt weniger attraktiv als zum Beispiel Castiglione d’Orcia. Leider war der Dom verschlossen, so dass ich keinen Eindruck gewinnen konnte.

San Lorenzo Nuovo ist zwar nicht neu, wie der Name vermuten ließe, wurde aber doch erst zur Zeit der Französischen Revolution am Reisbrett entworfen und aufgebaut, nachdem im Vorgängerort eine Malariaepedemie ausgebrochen und der größte Teile der Bevölkerung von der Seuche dahingerafft worden war. Dann will ich mal hoffen, dass die Mücken von heute keine Malariaüberträger sind.

Die Straße vom Rathaus hoch zur Kirche ist mit Garfiken und Bildern aus farbigen Sand dekoriert. Das sieht einfach klasse aus. Die Kirche ist sehr schlicht. Zur Erinnerung an den alten Ort, ist dieser dort als Modell – ich denke auch aus Sand – aufgebaut.

Das La Francigena ist eine einfache Herberge bestehend aus zwei kleinen Häusern. In dem einen Haus sind vier Zimmer eingerichtet und in dem anderen ein kleines Restaurant mit einem etwas verwahrlosten Garten, der trotz allem viel Charme versprüht. Hier sitze ich nun in Badehose und lasse den Tag Revue passieren. Wenn ich aufstehe und mich strecke, kann ich den Lago die Bolsena sehen.

Tage wie heute sind traumhaft!

Tag 36: 17.06.17

 

Die Sonne scheint so grell, dass selbst die Sonnenbrille meine Augen nicht hinreichend schützt, obwohl ein Dunstschleier über der Landschaft liegt. Ich quäle mich. Nicht etwa weil es mir und meinen Füßen nicht gut ginge. Es ist eine Motivationsfrage. Gerne wäre ich noch etwas im Bett liegen geblieben. Warum ich das nicht einfach mache: je später ich aufstehe, um so mehr werde ich von der Sonne gequält.

Dank meiner elektronischen Geräte komme ich mittels eines kleinen Umwegs nach zehn Kilometern zu einer Bar. Sonst hätte ich die 27 Kilometer bis nach Radicofani ohne Frühstück pilgern müssen. Der Weg ist so schon eine ordentliche Herausforderung. Mein B&B in Castiglione liegt auf knapp 500 m Höhe, von dort muss ich runter auf etwa 300 m Höhe und Radicofani liegt auf über 800 m, die es auf den letzten Kilometern zu überwinden gilt. In der Sonne eine überaus Schweiß treibende Angelegenheit. Vielleicht bin ich, dies wissend, etwas mürrisch.

Nach dem Frühstück stapfe ich dann doch guten Mutes weiter. Ich treffe zunächst zwei ältere Pilger, die aussehen wie Brüder und im Schatten eines Baumes Pause machen. Da sie kein Englisch sprechen, gehe ich ohne zu verweilen weiter. Auf halber Strecke sitzt ein junger Mann am Weges Rand und ruht sich aus. Wir unterhalten uns kurz. Da er den Weg nach Radicofani kennt, warnt er mich vor dem Anstieg und gibt mir den Rat, viel Wasser mitzunehmen. Der ist gut, wo,soll man denn hier bitte weiteres Wasser her bekommen. Ich habe allerdings in der Bar meine beiden Wasserflaschen aufgefüllt. Wie in den vergangenen Tagen halte ich mich an meine persönliche Prozedur. Nach jedem Kilometer trinke ich genau einen Schluck Wasser. Das Wasser behalte ich so lang wie möglich im Mund, um es in kleinen Portionen herunterzuschlucken. Das gibt mir das Gefühl, oft zu trinken und ich komme so locker zwanzig Kilometer weit mit meinen Vorräten. Erst wenn ich genau weiß, dass ich das Wasser nicht mehr rationieren muss, werde ich großzügiger.

Um die Mittagszeit und nach zwanzig Kilometern überfällt mich große Müdigkeit. Ich lege mich unter einen Baum, der hinreichend Schatten wirft und ich schlafe in meiner nun auch schon bestens geübten Position: Po auf die Schuhe, Kopf auf die Innseite des Rucksacks und Beine lang ausgestreckt. Nach einer halben Stunde kommt der junge Pilger vorbei und fragt besorgt, ob es mir gut gehe. Natürlich, ich bin nur müde und Wasser habe ich auch genügend, antworte ich. Er habe auch hinreichend Wasser dabei und hätte es mit mir geteilt. So zieht er weiter und ich mache mich langsam fertig, um den Rest des Berges zu erklimmen. Bevor ich fertig bin, kommen auch noch die beiden grau haarigen Pilger mit ihren langen grauen Bärten vorbei. Die überhole ich schnell. Die beiden sehen so aus, als wären sie völlig fertig. Kurze Zeit später komme ich an einer Wasserquelle vorbei, die als Trinkwasser gekennzeichnet ist. Das ist super, ich wasche meine Gesicht, Haare und Hände, trinke etwas und Fülle meine Flaschen auf. Jetzt geht es mir richtig gut.

Gegen meine Gewohnheiten esse ich etwas in Radicofani und besorge mir noch vorsichtshalber ein Stück Brot und etwas Salami. Ich werde in einem Agriturismo etwa sechs Kilometer weiter im absoluten nichts übernachten. Zwar betreiben die Besitzer eine Käserei, trotzdem war es im Vorfeld nicht einfach abzuklären, dass ich als Pellegrino nicht zurück in Stadt zum Essen gehen werde und daher etwas Käse bei ihnen kaufen möchte. Da ich nicht sicher bin, ob ich verstanden worden bin, stärke ich mich und nehme eben eine Kleinigkeit zu Essen mit.

Wind kommt auf, sogar recht starker Wind. Das macht das Pilgern sehr angenehm und die Sonne fühlt sich weit weniger unangenehm an. So erreiche ich den Bauernhof ohne mich überanstrengt zu fühlen.

Der Bauernhof ist tatsächlich ein Bauernhof. Als ich ankomme, treibt mein Wirt gerade eine große Schafherde in den Stall. Drei Hunde rennen bellend auf mich zu. Ich beleibe stehen, um zu sehen wie die Hunde reagieren. Ich werde von den Dreien, die patschnass sind, beschnüffelt. Nun nass von ihrem Fell darf ich den Hof betreten.

Die Wirtin nimmt mich in Kittelschürze gekleidet in Empfang und bringt mich in ein altes Bauernhaus, in dem sie mehrere Wohnungen eingerichtet haben. Eine davon ist meine: sehr große Wohnküche, großes Schlafzimmer und nachträglich eingebautes kleines Bad.

Auf dem Küchentisch hat sie alles für mein Abendessen hergerichtet: ein Stück Brot, Kirschen, ein Stück Schafskäse, Schafssalami und eine Flasche Rotwein, abgefüllt in eine Saftflasche, alles mit Ausnahme des Brotes aus eigener Produktion, wie sie mir stolz erzählt. Super dann kann nichts mehr schief gehen.

Toller Tag, der so schleppend anlief!

Tag 35: 16.06.17

 

Buonconvento schläft noch, als ich den Ort verlasse. Alles ist feucht vom gestrigen Regen. Von den Wiesenwegen werden meine Schuhe feucht. Ich bin froh, dass sie mit einer Goretex Membran abgedichtet sind und meine Socken nur stellenweise Feuchtigkeit aufnehmen. Meine Hose hingegen ist binnen fünf Minuten nass von den Halmen, die bereitwillig jeden Wassertropfen, der nach dem Regen nicht herunter fallen konnte, an mich abzugeben und meine Hose nimmt sie dankbar auf. Die Sonne trocknet die Wege schnell ab, so dass die Luftfeuchtigkeit sehr hoch ist. Ich komme mir vor wie in einem Dampfbad. Vorteil ist, die „weißen“ Straßen sind nicht so staubig.

Nach knapp fünfzehn Kilometern erreiche ich Torrenieri. Ein kleiner Ort, der von der Ferne beeindruckender aussieht als er tatsächlich ist. Mir reicht eine Bar, um meine Schuhe in der Sonne trocknen zu lassen und in aller Ruhe zu frühstücken. Nach weiteren acht Kilometern bin ich in San Quirico d’Orcia. San Quirico ist dann schon deutlich beeindruckender. Eine Stadt mit langer Tradition und ein ewiger Zankapfel zwischen Siena und Florenz. Am Ende haben die Medici obsiegt und die Stadt ausgebaut. Die Innenstadt ist weitgehend noch so erhalten wie die Florentiner sie gestaltet haben. Markant ist die Parkanlage im Zentrum von San Quirico. Das lädt zum Pausieren ein.

Nun mache ich mich auf zu meinem Etappenziel, das mich weitere zehn Kilometer nach Süden bringt. Zum Teil geht es steil bergauf und -ab. Schon den ganzen Tag laufe ich durch schönste Landschaften, die vom Weinbau geprägt sind. Entsprechend komme ich an vielen größeren und kleineren Weingütern vorbei, die alle Weinverkostungen anbieten – leider nichts für mich. Es gibt auch die eine oder andere Käserei.

Dass nicht nur San Quirico sondern auch andere Orte des d’Orcia Gebietes heiss umkämpft waren, ist an den Aussichtstürmen, Wehrdörfern und Burgen, die hoch oben auf den Bergen thronen, gut zu erkennen. Gefühlt in Mitten des Nichts komme ich durch ein Dörfchen, das den Eindruck vermittelt, dass sich außer der Elektrifizierung nichts seit dem Mittelalter geändert hat. Von hier kann ich im Norden Quirico und im Süden auf noch einen höheren Berg, Castiglione d’Orcia, gut sehen.

Nach Castiglione will ich, dort ist mein B&B. Nur muss ich von dem 45 Seelendorf ca. 300 Höhenmeter runter an den Fluss durch das „mondäne“ Bagno Vignoni. Die Preise der Hotels sind zumindest stolz. So stolz, dass ich einen Kurort, wie man sie aus Deutschland kennt, erwarte. Außer einem sehr großen Parkplatz am Ortsrand, kann ich nichts großartiges erkennen.

Nach der Überquerung des Orcias muss ich die 300 Höhenmeter, plus ein paar Meter zusätzlich, nach Castiglione wieder hoch. Die Wege führen durch liebliche Landschaften. Nur so richtig genießen kann ich das nicht. Die Sonne brennt auf mich nieder und treibt jeden Tropfen Flüssigkeit über die Haut aus meinem Körper. Gut dass ich in Bagni Vignoni meine beiden Wasserflaschen aufgefüllt habe. Bis ich in Castiglione ankomme, sind beide Flaschen leer.

Auch hier ist die Zeit stehen geblieben. Kleine Gassen, die steil den Berg hoch führen, und mit Steinen ausgelegte Straßen kennzeichnen den Ort. So eng wie die Gassen angelegt sind, so klein sind auch die Geschäfte. Manche der Geschäfte haben nur eine Tür und keine Schaufenster, da dafür kein Platz ist bzw. die Bausubstanz solche nicht zulässt. Trotz allem sind die Geschäfte gut besucht, Kinder spielen auf der Straße bis spät in die Nacht und die Erwachsenen sitzen in Gruppen vor ihren Häusern, unterhalten sich und schauen den Kindern zu. Nur die Häuser sind alt, die Stadt ist jung und lebhaft.

Mein Zimmer ist Teil einer Wohnung. Es gibt noch ein weiteres Zimmer, das aber nicht vermietet zu sein scheint. Zur Wohnung gehört ein kleiner Wohnraum und eine Küche mit einigen kleinen Tischen. Vor der Wohnung ist ein Hof, in dem es Sitzmöglichkeiten gibt. Pflanzen zieren den Hof, so dass es angenehm ist, draußen zu verweilen.

Gäbe es nicht die vielen Autos, so hätte ich heute den Eindruck gewinnen können, in einer Zeitmaschine ins Mittelalter gereist zu sein. Ich könnte mir vorstellen, dass der Erzbischof von Canterbury, Sigeric, auf seiner Pilgerfahrt vor gut Tausend Jahren kaum anderes gesehen hat als ich. So macht pilgern einfach Spaß und ich spüre deutlich weniger all meine Blessuren, die mich selbstverständlich auch weiter jeden Tag begleiten.

Gut 33 Kilometer und über Tausend Höhenmeter habe ich bei Sonnenschein von der ersten bis zur letzten Minute bewältigt. Nur als ich den Ort am frühen Abend eingehend besichtige, donnert es im Hintergrund und es fallen einige wenige dafür richtig dicke fette Tropfen.

Jetzt sitze ich in einer Trattoria die von einem älteren Ehepaar – sicher etwas jünger als ich – geführt wird. Er ist ist ein lustiger Vogel und macht mit mir seine Späße, die ich natürlich nicht verstehe. Sie unterhalten aber bestens die beiden anderen Tisch. Ich vermute, er macht eher über mich Scherze, das ist auch in Ordnung. Wir verstehen uns gut, da er ausschließlich Italienisch spricht und er weiß, dass ich oft eine Idee davon habe, was er so redet. Eins hat er definitiv verstanden, ich lege auf gutes Essen wert. Das freut ihn; seiner Frau ist das egal. Sie ist mürrisch und bleibt es den ganzen Abend über. Ich gönne mir die Trattoria, da ich die 1.000 Kilometermarke geknackt habe. Laufe ich keine Umwege mehr, sind es noch 235 Kilometer bis zum Petersdom. Ende nächster Woche bin ich beim Papst! Na ja, in seiner Stadt!

Tag 34: 15.06.17

 

Der Wecker klingt wie immer um 06:00 Uhr. Nur er will nicht aufhören, bis mir klar wird, es ist gar nicht mein Wecker; Regen trommelt auf das Dach. Jetzt bin ich hell wach. Auf der oberen Ebene habe ich die Fenster weit geöffnet. Ich springe aus dem Bett und eile nach oben. Puh, es kann gerade erst angefangen haben zu regnen, nichts ist nass. Eine einzelne dunkle Regenwolke hängt über Siena.

Ich beschließe noch etwas zu ruhen. Solange es regnet, habe ich keine Lust aufs Pilgern. Um halb acht ist es so weit, die Regenwolke ist weg und die Sonne scheint wieder grell auf die Stadt. Ich muss beim Gehen höllisch aufpassen. Die ausgetreten Steine der alten Straßen sind glitschig: besonders die steil bergab gehenden Straßen sind gefährlich.

Es dauert keine halbe Stunde und alle Wege sind wieder trocken und so staubig als hätte es keinen Regen gegeben. Straßen asphaltiert oder als staubige Schotterpisten prägen den Weg. Ein Führer schreibt über diese Etappe: „if you undertake this itinerary on a sunny day, it can be unforgettable thanks to unlimited views visible from the crest of Val d’Arbia, following never-ending white streets.“ Das wirkt geradezu zynisch. Auf den „weißen“ Straßen donnern Autos entlang, als ginge es darum die Rallye Montecarlo zu gewinnen. Die Feinstaubbelastung ist um ein Vielfaches höher als in Beijing im Winter und das liegt nicht daran was hinten aus dem Auspuff der Autos heraus kommt. Die Vegetation hat die Farbe der Straße angenommen und ich sehe auch nicht anders aus. Ich laufe fortan in der Mitte der Straße: verlangsamen die Fahrzeuge ihre Geschwindigkeit, so gehe ich zeitig zur Seite, wenn nicht, bleibe ich in der Mitte, bis auch der rücksichtsloseste Fahrer fast zum Stillstand gekommen ist. Das handelt mir den Kontakt mit der Polizei ein. Auch die rasen die Staubpisten entlang, als gälte es Schwerverbrecher zu jagen, obwohl sie vermutlich nur auf dem Weg zu einem Café sind. Das Polizeiauto hält an. Eine Polizistin und ein Polizist steigen aus. Sie redet auf mich ein, bis ich ihr sage: „Scusa, io non parlo italiano!“ Die beiden schauen sich an, schütteln den Kopf und steigen wieder ein, während er versucht, mir mit Zeichensprache zu verstehen zu geben, ich soll gefälligst auf der Seite gehen. Ich nutze ebenfalls Zeichensprache und Englisch, dass sie gefälligst langsam fahren und Rücksicht nehmen sollen. Damit haben wir unsere Meinungen ausgetauscht, keiner hat den anderen wirklich verstanden und beide machen wir weiter, was wir wollen. Kein gutes Ergebnis. Was mich über egoistisches Verhalten nachdenken lässt. Um ehrlich zu sein, wüsste ich nicht, wie ich mich, in einem Auto sitzend, verhalten würde.

Die Landschaft ist tatsächlich auch heute wieder traumhaft schön. Ich hoffe, die folgenden Bilder können einen Eindruck vermitteln, was mich so sehr beeindruckt.

Was für tolle unterschiedliche erdige Färbtöne es gibt …

… Getreidefelder mit erntereifen und noch unreifen Feldern …

… ich liebe diese lose angeordneten Zypressen entlang der Wege …

… das sind tatsächlich zwei Reihe von Zypressen und keine Spiegelung …

… mini Sonnenblumen; eine freche entscheidet sich für frühreife …

… dazu muss ich einfach Dire Straits Telegraph Road hören …

… da hat sich mal jemand Mühe gemacht, den Pilgerwege schön anzulegen!

Nach etwa eineinhalb Stunden Marsch treffe ich auf meine Pilgerfreunde, das Pärchen aus Italien/Deutschland. Sie kann auf ihren strammen Beinen schon seit langem nicht mehr gut laufen und ihm geht es seit gestern arg schlecht. Große Blasen und eine Sehnenentzündung im linken Fuß machen ihm zu schaffen. Er war gestern beim Arzt, weil er sich gar nicht gut fühlte. Sie sind bereits um fünf heute morgen gestartet. Die beiden werden noch ihren Spaß haben, wenn sie in dem Tempo weiter laufen. Sein Rucksack ist natürlich auch viel zu schwer. Er hatte mich die Tage schon gefragt, was mein Rucksack wiegt, da er so leer aus sehe. Ich gebe ihm erneut den Rat, sich zu überlegen, was er wirklich benötigt, um in Rom anzukommen. Mein Rat kommt aber nicht wirklich an. Da habe ich schon wieder mein Problem mit der Kommunikation.

Viele Orte gibt es heute wenige: erst nach fast fünfzehn Kilometern kommt die erste Bar nach dem ich Siena verlassen habe. mein Magen hängt in mir in den Knien. Ich mache eine ausgiebige Pause. Am Nachbartisch spielt sich ein Drama ab. Eine junge Frau heult sich die Seele aus dem Leib. Drei Freundinnen reden auf sie ein. Mit einer der Freundinnen unterhalte ich mich später. Sie erzählt mir, dass die so aufgelöste Frau von ihrem Freund just heute Morgen sitzen gelassen worden ist, nachdem sie ihm gestern Abend freudig erzählt hat, sie sei schwanger. Man muss nur in Bars gehen und schon nimmt man am Leben anderer Teil. Was noch toll daran ist: es gibt keine Kommunikationsschwierigkeiten. Bars in Italien sind einfach toll.

Nach weiteren gut zehn Kilometern komme ich nach Ponte d’Arbia. Hier lege ich einen weiteren Boxenstop ein. Die Bar hat eine tolle Terrasse und wie ich das vom Camino Frances kenne, macht die Bar auf der Via Francigena auf sich aufmerksam. Der Wirt ist eine echte Type und kommt immer mal wieder bei mir vor bei und sein wichtigstes Wort bzw. Message ist: tranquilla. Obwohl ich nur noch fünf Kilometer vor mir habe, kann ich mich nicht aufraffen weiter zu wandern. Ich habe mich an dem Wirt infiziert und mit Tranquilla angesteckt. Als dunkle Wolken aufziehen, werde ich nervös. Jetzt sollte ich mich aber mal sputen sonst werde ich noch nass.

Nun sause ich geradezu nach Buonconvento. Ein sehr schöner kleiner Ort. Eine Fronleichnamsprozessionen, wie sie die Vermieterin von gestern vermutet hatte, gibt es nicht. Dafür aber ein heftiges Gewitter, das keine fünf Minuten nach meiner Ankunft im Hotel, los geht, erst mit etwas Regen dann mit Blitz und Donner. Mehrfach fällt der Strom aus. Weltuntergangsstimmung! Nach knapp drei Stunden ist der Spuk vorbei und die Sonne scheint wieder. Die Natur ist ein fantastisches Wesen: ich fühle mich wohl und voller Energie. Während es noch leicht regnet, gehe ich raus. Den Geruch nach einem Regen auf staubigen Grund, liebe ich. Der Geruch bedeutet zugleich Reinigung und neues Leben. Ich habe das Gefühl Gott nahe zu sein bzw. der Kraft, die dieser Welt ihre Spielregeln gegeben hat und in uns wohnt, der wir viel zu selten erlauben, uns zu leiten. Was ich sagen will, wir lassen viel zu selten zu, dass wir sie erkennen und uns ihr zu Nutze mache.

Knapp über 30 Kilometer bei extrem langen Pausen haben mich nach Buonconvento gebracht, einem Städtchen, das auch in der Nacht weiß, ihren Charme zu versprühen.

Tag 33: 14.06.17

 

Heute müssen Bilder sprechen. Ich habe mal wieder feststellen können, wozu Menschen alles in der Lage sind und dass unsere Vorfahren keineswegs weniger kulturbewußt gewesen sein können als wir. Im Gegenteil sie haben viel mehr an erhaltenswerten Kunstgegenständen, zumindest was Bauwerke angeht, geschaffen als wir. Trotz unseres Wohlstandes müssen öffentliche Gebäude heute meist nur ein Kriterium erfüllen: billig. Schaffen es mal Bauwerke wie die Elbphilharmonie durch die Genehmigungsprozesse, dann werden oft nur die Kosten diskutiert, statt stolz zu sein. In Leimen wurde zum Beispiel ein neues Rathaus gebaut, das so billig aussieht, dass ich mich dafür schäme und die öffentliche Diskussion um die Gestaltung des Platzes zwischen altem und neuem Rathaus ist ebenso beschämend. Die Entscheidungsträger sollten mal als Pilger durch die Toskana wandern, um sich mit Demut anschließend der Stadtgestaltung zu widmen. Gleiches gilt natürlich für jede Bürgerbewegung, die nur eines möchte: keine Veränderung. Ohne Veränderung werden wir nichts neues großartiges erschaffen und das sollten wir unbedingt tun. Wir brauchen nicht nur ein neues iPhone oder – Auto am besten jedes Jahr – sondern auch Projekte, an denen unsere Nachfahren ihre Freude haben werden.

So zurück zu meinem heutigen Tag. Etwa vier Kilometer nach dem ich mein hübsches Häuschen auf dem Weingut verlassen habe, erreiche ich Monteriggioni. Eine Stadt mit wehrhaften Mauern, die schon von weitem zu sehen sind. Die Innenstadt ist klein aber hübsch hergerichtet. In der Abtei hole ich mir meinen obligatorischen Stempel und in der Bar auf dem großzügigen Dorfplatz frühstücke ich ausgiebig. Mit der alten Dame, die den Service am Morgen übernommen hat, versuche ich mich zu unterhalten, was aufgrund ihrer undeutlichen Aussprache nicht ganz einfach ist. Ich verstehe, dass Sie stolz darauf ist, noch arbeiten zu können und in diesem Ihrem Heimtort leben zu dürfen. Die alte Dame rührt mich, später kommt ihre Enkelin, die Englisch spricht, und mir erklärt, wie wichtig es ihrer Familie ist, in diesem traditionsreichen, kleinen Ort, seit vielen Generationen die Bar betreiben zu können.

Nach über einer Stunde ziehe ich weiter durch Olivenhaine, Weinberge, Getreidefelder und Wälder. Mit einem guten Händchen haben Menschen die Landschaft gestaltet und Wege angelegt, die eine Freude sind entlang zu pilgern.

Verlassene Burgen, bunte Felder begleiten mich heute. Eine Jahrhunderte alte Eiche steht mitten im Weg, auf die ich am liebsten hoch klettern würde. Sie öffnet mein Herz und ich raste Unter ihren weit ausgebreiteten Ästen. Ich fühle mich in ihrer Gegenwart so wohl, dass ich tief und fest in ihrem Schatten schlafe.

So nun muss ich aber endlich nach Siena. Wie gut ist diese Stadt erhalten. Der sehr große Stadtkern stammt komplett aus dem Mittelalter und ist von einer Großzügigkeit, die mich überwältigt. Warum mussten wir in der Vergangenheit soviel Kriege führen, dass große Teile unseres Erbes zerstört wurden, stellt sich mir automatisch mal wieder die Frage.

Ich tausche mit meiner Vermieterin von heute SMSe aus und wir treffen uns mitten in der Altstadt. Ich habe in einem historischen Haus im obersten Stockwerk ein kleines Apartment auf zwei Ebenen. Die untere Eben ist im Grunde ein dunkles Loch, schön hergerichtet, aber fensterlos. Die obere Ebene ist atemberaubend. Riesige Fenster in alle vier Himmelsrichtungen und Blick auf die Stadt: im Westen der Dom Santa Maria Assunta mit seinem einzigartigen Turm, im Norden die Piazza del Campo mit seinem nicht minder fantastischen Turm, nach Osten die Basilica di Francesco und nach Süden die Dächer der Stadt. Wow, was für ein Ausblick! Ich kann mich gar nicht satt sehen.

Von der Vermieterin erhalte ich tausend Tipps, die ich mir gar nicht alle merken kann. Ich muss schnell Wäsche waschen, duschen und dann raus in die Stadt. Ich kann es gar nicht mehr abwarten.

Zu erst geht es zum Dom: der ist völlig anders als alle anderen Gotteshäuser, die ich bisher in meinem Leben gesehen haben und das gilt für außen wie für innen. Das einzigartige ist die Verwendung von weißem und schwarzem Marmor. Leute, das müsst ihr Euch anschauen!

Dann gehe ich hinunter auf die Piazza del Campo. Den Mut sollte heute jemand haben und einen solchen Platz planen und auch realisieren. Von hier laufe ich weiter zur Basilica di Francesco. Von außen wirkt sie eher unscheinbar, was mich wundert, da aus dem Fenster meines Apartments sie wie ein monströses Bauwerk aussieht. Davor stehend ist sie eher zierlich. Meine Vermieterin war der Meinung, sie ist ein Muss auf meiner Tour durch die Stadt. Und sie hat recht: es handelt sich um eine quasi leere Kirche. Stellt Euch vor, jemand erstellt ein im Prinzip leeres Gebäude! Es sind allerdings unschätzbare Gemälde ausgestellt und die Kirchenfenster – ich suche nach einem neuen Superlativ – sind einfach gigantisch.

Das einzige, was mich in Siena stört, ist die skrupellose Geschäftemacherei. Ein kleines Eis aus der Waffel kostet sage und schreibe 6 Euro 50 Cents: auch das ist atemraubend. Mit den Empfehlungen meiner Wirtin ausgestattet finde ich eine passende Osteria, die mich nicht über den Tisch zieht. Das Essen ist ok. Zum Schluss „muss“ ich mit dem Wirt noch einen Grappa trinken. Ich habe das Gefühl, der Wirt gibt den Gästen gerne einen Grappa aus, um auf diese Weise eine Entschuldigung zu haben, auch einen trinken zu dürfen. So jetzt muss ich schnell zurück und meinen Bericht fertigstellen, andernfalls lähmt mich der Alkohol zu arg.

Da es heute öfter mal bewölkt war, habe ich die 24 Kilometer mit wenig Anstrengungen dafür mit Genuss bewältigt – sechs Kilometer Besichtigungstour kommen noch oben drauf, so dass ich doch wieder 30 Kilometer meinen Füßen auf gebürdet habe.

Morgen freue ich mich auf Fronleichnam. Das ist in Italien zwar kein offizieller Feiertag, trotzdem gibt es nach meiner Erfahrung in vielen Orten beeindruckende Umzüge. Deshalb nehme ich mir vor, bis nach Buonconvento zu pilgern, da mir meine Vermieterin erzählt hat, dass der einzig verbliebene Priester, das Convent ist wohl nicht mehr wirklich am Leben, jedes Jahr einen Umzug organisiert. Sie kennt den Priester und hat angeboten, ihn anzurufen, um meine Ankunft anzukündigen. Ich habe das abgelehnt, weiß natürlich nicht, ob sie ihn nicht trotzdem informiert.

Tag 32:13.06.17

 

Heute hat mich die Faulheit überfallen. Es geht damit los, dass ich fast eineinhalb Stunden brauche, bis ich mit meinen morgendlichen Aktivitäten fertig bin. Mein Schlafzimmer ist schon jetzt ordentlich von der Sonne aufgewärmt, so dass ich schon vor meinem Aufbruch träge bin.

Es nützt aber nichts, ich muss jetzt los. Um 07:30 Uhr stehe ich in den mittelalterlichen Gassen San Gimignanos. Die nächsten drei Kilometer geht es auf Straßen immer bergab. Von da an wandere ich durch Waldstücke und landwirtschaftlich genutztes Gelände bergauf bergab, aber öfter bergab als hoch. Ich muss langsam machen, da die Wege durch Traktoren völlig zerfurcht sind. Jeder Schritt will mit Bedacht gewählt sein. Nach weiteren 5 Kilometern muss ich mich entscheiden, ob ich den offiziellen und neuen Weg oder den alten Weg gehen möchte.

Der alte Weg eröffnet mir vielleicht mehr Optionen für heute Nacht. Also checke ich das gleich mal mit meinem iPad, da ich bis jetzt noch nichts passendes gefunden habe. Entweder gibt es ein Ostello, auf das ich keine Lust habe, da ich mein Bad nicht mit anderen teilen möchte, oder auf zwei teure Agriturismos. Mit einem Umweg kann ich zwei weitere B&Bs erreichen. Für eins entscheide ich mich.

Da ich schon mal pausiere, Entledige ich mich meiner Schuhe und strecke mich auf dem Waldboden, Po auf die Schuhe, Kopf auf den Rucksack, aus. Kaum liege ich, schlafe ich auch schon. Wovon bin ich nur so müde?

Nach einer guten halben Stunde kommt ein Pärchen vorbei. Beide grüßen mit einem kräftigen „Bon Jour!“ und wecken mich so. Warum können Franzosen nicht wie alle anderen wenigsten in Italienisch grüßen? Ist ja nicht so ganz verschieden.

Na, dann will ich mich mal fertig machen, was einen Moment dauert, da ich doch eine ordentliche Menge Blätter aufgesammelt habe. Nach etwa drei Kilometern biege ich von dem offiziellen Weg ab und erklimme einen Hügel, auf dem ein kleiner Ort thront. Dort gibt es bestimmt eine Bar, in der ich frühstücken kann. Es ist zwar etwas früh für eine zweite Pause aber ich habe Hunger und unter Zeitdruck stehe ich nicht. Ein Apartment ist gebucht und dort kann ich bis 20:00 Uhr einchecken. Also kann ich schön langsam machen.

Ich pilgere von der Bar runter über eine verlassene Abtei, nicht ganz verlassen: Katzen haben hier ein Zuhause gefunden, zurück auf die Via Francigena. Jetzt werden die Wege richtig schön. Es gibt Waldwege, die weder von Autos noch landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen ruiniert sind. Oft laufe ich auf Wirtschaftswegen durch Felder und entlang von Bachläufen. Landschaftlich einfach traumhaft.

Heute scheint nicht mein Tag zu sein: ich bin dauermüde. Kaum komme ich wieder an einer Bar vorbei, muss ich ruhen und verweile schon wieder bestimmt eine Stunde, bevor ich mich aufraffen kann, weiter zu marschieren. Ich nehme mir vor, die letzten ca. zehn Kilometer stramm durchzulaufen und nicht mich von allem möglichen ablenken zu lassen.

Ablenkung gibt es kaum noch dafür aber viele Autos auf unasphaltierten Straßen, die Unmengen an Staub aufwirbeln. Ich werde zu einer wandernden Sandsäule. Als ich mein Zielort erreiche, bin ich etwas erschrocken: das sieht mehr nach einem Industriegebiet aus und weniger nach einem netten Ort mit hübschen Häusern und Gärten, wie die Beschreibung im Internet vermuten lässt. Na gut, kann man nichts machen. Dann werde ich positiv überrascht. Ich habe ein kleines Häuschen auf einem Bauernhof mit einem liebevoll hergerichteten Garten. Das Haus ist toll eingerichtet. Der Wirt bietet an, da es kein Restaurant in Laufdistanz gibt, mich zu fahren. Das ist nicht notwendig, da gegenüber jemand Wurst und Käse verkauft. Ich hole mir dort auch gleich Schinken, Salami, Käse und viel Wasser. Als ich zurück komme, steht eine Flasche Rotwein aus eigener Erzeugung – ohne Etikett versteht sich – auf dem Tisch.

Das lasse ich mir, nach dem ich mich im Liegestuhl ausgeruht habe, kurz vor Sonnenuntergang im Garten schmecken. Jetzt ist es nicht mehr so heiss; da sitzt es sich draußen sehr angenehm.

Heute komme ich auf 27 Kilometer und knacke damit die 900 Kilometermarke. Jetzt sollten es nur noch 300 Kilometer und 10 Tage sein. Auf morgen freue ich mich schon sehr, denn da werde ich Siena erreichen, und ein Apartment in der Innenstadt mit Blick auf den Dom habe ich auch schon gebucht.

Tag 31: 12.06.17

 

Kaum bin ich los gelaufen, schon treffe ich auf das Pilgerpärchen von gestern. Er hat definitiv großen Gesprächsbedarf. Also gehe ich die nächsten fünf Kilometer mit ihm. Sie hinkt ständig hinter uns her, obwohl wir gerade zu schleichen. Dann kann ich das Getrödel nicht länger aushalten und verabschiede mich, wissend, dass ich die beiden in Gambassi Terme wieder treffe, während ich ausgiebig frühstücken werde.

Nach zwölf Kilometern ist es so weit, Ich Mühe mich den Berg hinauf nach Gambassi. Hungrig suche ich nicht lange nach der schönsten Bar, ich nehme die erste. Auch wenn ich auf dem Camino Frances im letzten Jahr gelernt habe, dass die zweite Bar immer die beste ist. Wie ich später feststellen muss, ist dies auch in Gambassi der Fall. Der Hunger lässt aber keinen weiteren Aufschub zu und schlecht ist es hier auch nicht.

Nachdem ich ein Panini, ein Croissant und zwei Cappuccini gegessen und getrunken habe, kommen erwartungsgemäß meine beiden „Pilgerfreunde“ herein geschneit. Da ich gerade konzentriert die Zeitung lese, bekomme ich das nicht mit. Aber der Italiener sucht nicht nur das Gespräch sondern auch Körperkontakt. Er nimmt mich in den Arm und lässt sich neben mich auf den Stuhl fallen. Nur sie beordert ihn an einen anderen Tisch. Die hat einen Schuss. Ich nehme ihr schon ihren Begleiter nicht weg. Ich stehe einfach nicht auf Männer.

Ich trinke noch eine Fanta und schlafe am Tisch ein. Es war mir gar nicht klar, dass ich schon wieder müde bin. Nach einer halben Stunde wache ich auf, bezahle und verabschiede mich auch wenn ich vermute die beiden in San Gimignano wieder zu sehen, da das auch ihr Ziel ist.

Da ich recht lange pausiert habe, ist es wieder richtig schön warm und die Sonne kündigt an, dass Sie mich ordentlich in die Mangel zu nehmen gedenkt. Ich fürchte, dass ich keinen Rastplatz mehr bis San Gimignano finden werde. Es ist allerdings auch nicht mehr ganz so weit: meine App sagt 14 Kilometer. Daraus werden am Ende allerdings 16. Die App scheint immer die Abkürzungen zu kalkulieren, die ich heute aber nicht nehme, da ich dann nicht an dem Kloster de Bosse (Pieve di Santa Maria Assunta a Cellole) vorbei käme. Bevor ich dorthin komme, mache ich In einem Hotel am Wegesrand noch eine Pause. Ich trinke einen Liter kaltes Wasser und ein Glas Orangensaft. Das bringt mich wieder aufTouren und ich kann froh gelaunt den Weg zum Kloster wandern, was nicht nur zwei Kilometer Umweg bedeutet sondern auch noch zusätzlich 120 Höhenmeter.

Die Kirche des Kloster beeindruckt innen von einer unglaublichen Schlichtheit. Ich muss mich erst mal auf eine der Bänke setzen, um diese Elganz, die durch ihre Einfachtheit entsteht, auf mich wirken zu lassen. Danach gehe ich in den Shop, in dem die Mönche Souvenirs verkaufen und lasse mir einen Stempel für meinen Pilgerpass geben. Ich unterhalte mich noch etwas mit einem der Mönche, dem aufgefallen ist, dass ich eine Weile in der Kirche gesessen bin. Er freut sich sichtlich, dass mir die Kirche so ausnehmend gut gefällt, so dass ich von ihm über das kleine Klostergelände geführt werde. Er ist von dem Anwesen begeistert. Die Lage ist ausnehmend schön mit Blick auf San Gimignano, der Rest ist eher funktional. Trotzdem freue ich mich, dass sich der Mönch für mich Zeit genommen hat.

Dann gehe ich die letzten vier Kilometer nach San Gimignano. Natürlich bin ich von der Hitze erschöpft, trotzdem fühle ich mich heute richtig wohl. Seit langem habe ich keine Schmerzen in den Füßen, was meinem Wohlbefinden sichtlich gut tut. Obwohl es heute noch einmal heißer war als gestern, hat die Sonne mich nicht ganz so arg ausgelaugt.

Ich passiere das Stadttor San Matteo und finde nach kurzem meine Vermieterin, die mich in eine Wohnung führt, die tatsächlich direkt mit einem der Türme verbunden ist, für die der Ort so berühmt ist (La Torre Nomipesciolini). Ich habe in mehrere Richtungen Aussicht: einmal in die Stadt auf die Unmengen an Touristen aus aller Welt und einmal nach Norden in die Ebene, wo das berühmte Weingut Teruzzi & Puthod liegt.

Nach einem kurzen Mittagsschlaf und der obligatorischen Dusche besichtigt ich diesen einmaligen Ort. Mir stellt sich die Frage, wie haben die Menschen hier gelebt, als sich noch keine Touristenmassen durch die Stadt geschoben haben.

Zum Abendessen finde ich eine kleine Osteria, die meine Lieblingsgerichte aus der Toskana zubereitet und einen Vernaccia, der im Eichenfass greift ist, auf der Karte stehen hat. Hier esse ich nun zu Abend.

So nun muss ich bezahlen. Ich bin der letzte Gast und die Wirtsleute möchten offensichtlich ihr Restaurant schließen. Ich kann mich nur nicht so richtig aufraffen, da es mir eine Freude ist, meinen Bericht zu schreiben und ich das Glas Wein austrinken möchte. Verjagt werde ich nicht, da dem Wirt sichtlich die Wahl meiner Gerichte und des Weines gefallen hat: das hat er zumindest mehr als einmal zum Ausdruck gebracht. Da ich beim Bezahlen meine Zufriedenheit deutlich bekunde, werde ich noch seiner Frau, die für die Vorspeisen zuständig ist, und seiner Tochter, die die Hauptgerichte zubereitet, vorgestellt.

Die Straßen sind noch immer belebt. Chinesen sehe ich definitiv keine mehr und auch Deutsch ist nicht mehr die vorherrschende Sprache; das italienische dominiert. So komme ich zurück in meine Wohnung und schaue noch eine Weile aus dem Fenster auf die Straßen der Stadt. Sollte tatsächlich jemand noch nicht in San Gimignano gewesen sein, dann ist das kaum zu entschuldigen und muss unbedingt in Angriff genommen werden.

Tag 30: 11.06.17

 

Ein einziger Traum! Ich wandere durch die hügelige Landschaft der Toskana und erreiche das Chianti Gebiet. Die Natur hat sich viel Mühe bei der Gestaltung dieser einzigartigen Gegend gegeben und.die Menschen sind sorgfältig mit ihr umgegangen.

Jetzt sitze ich am Pool des Agriturismo, in dem ich ein Apartment gemietet habe und direkt an der Via Francigena gelegen ist. Von meinem Liegestuhl schaue ich über den Pool hinweg auf Montaione, das Luftlinie etwa sechs vielleicht auch sieben Kilometer entfernt sein dürfte. Ich habe überlegt, ob ich den Umweg über Montaione nehmen soll, um in San Vivaldo morgen Abend in der dortigen Osteria bei Andrea zu dinieren. Ich habe mich dagegen entschieden, da ich einen ganzen Tag verlöre. Also ist mein morgiges Ziel San Gimignano. Dort werde ich sicher auch ein Restaurant finden, das die typischen Toskanischen Gerichte zubereitet.

Zurück zu heute. Um Punkt sieben Uhr starte ich und komme zunächst nach Fucecchio, das auf einem Hügel liegt und einen gut erhaltenen Ortskern besitzt. Dort lege ich meine erste Pause ein. Panini gibt es um diese Uhrzeit leider noch nicht aber frische süße Teilchen. Die sind so lecker, dass ich gleich zwei esse. Kaum habe ich aufgegessen, kommen zwei Pilger ein Italiener und eine Deutsche, die ich heute Morgen kurz nach meinem Start schon getroffen hatte, herein. Der Italiener freut sich und setzt sich zu mir. Ihr scheint das nicht recht zu sein. Mit ihm hatte ich mich schon auf dem Weg unterhalten, sie trödelte so sehr, dass ich mich nach wenigen Minuten verabschiedet hatte. Auch jetzt bleibe ich nicht mehr lange und ziehe von dannen.

In der Bar in Fucecchio habe ich auf booking.com gecheckt, welche Möglichkeiten zu übernachten ich habe. Von der Lage und Entfernung bietet sich nur ein Agriturismo an, das leider recht teuer ist. Auch gibt es weit und breit kein Restaurant. Also verschiebe ich die Entscheidung, denn ich müsste ein am Sonntag geöffneten Supermarkt finden und mein Abendessen mitbringen.

So gehe ich weiter nach San Miniato. Nachdem ich die Autobahn unterquert habe, komme ich an einem großen Supermarkt vorbei. Ich kaufe etwas Obst, eine Wurst und ein Stück Käse für heute Abend. Um meinen Rucksack ordentlich schwer zu machen, packe ich noch eine Flasche Saft ein.

Jetzt muss ich auf schmalen und zugewucherten Wegen den Berg erklimmen. San Miniato überwältigt mich. Hoch oben auf einem Berg liegt die Stadt. Etwas östlich befindet sich eine Anlage mit dem Dom als Zentrum und nordwestlich davon die Wohnhäuser auf einem Bergkamm. Die Anlage rund um den Dom ist beeindruckend mit einer atemraubenden Sicht in quasi alle vier Himmelsrichtungen. In den Dom kann ich leider nicht, da gerade eine Messe gelesen wird.

Dafür lege ich eine weitere Pause ein, um mich für den Rest des Weges zu stärken. Der Blick von der Terrasse der Bar ist auch nicht schlecht. Nun muss ich mich aber entscheiden, wo ich nächtigen werde. Ein Restaurant brauche ich nicht mehr. Das bedeutet, ich brauche weder im Umkreis von San Miniato bleiben noch muss ich bis nach Castelfiorentino, was auch noch fern ab des Weges liegt, oder gar nach Gambassi Terme, was eine Tagesleistung von über 40 Kilometer bedeutete. Denn zwischen San Miniato und Gambassi Terme gibt es keinen Ort und somit auch keine Bars, Restaurants oder Osterias. Da ich nun solange gewartet habe, ist so wie so nur noch das Agriturismo, das ich bereits zu vor in Erwägung gezogen habe frei. Also buche ich es nun.

Als ich meine Schuhe wieder anziehe, kommt mein Pilgerpärchen erschöpft herein. Also bleibe ich noch etwas, da der Italiener sofort auf mich zugestürmt kommt..Sie bleibt weiter mürrisch. Die beiden bestellen erst einmal ein großes Bier. Da sie Durst haben gleich noch ein zweites. Ich frage nach ihrem Tagesziel und bin erstaunt, dass sie noch zehn Kilometer vor sich haben. Würde ich jetzt ein Bier trinken, müsste ich in San Miniato bleiben. Nun lasse ich die beiden allein.

Was mir nicht so klar ist, dass sich die einzelnen Wegabschnitte am Ende wieder auf 32 Kilometer aufsummieren. Das hört sich nicht viel an aber bei der Hitze, die heute herrscht, ist das verdammt weit. Vor allem die letzten acht Kilometer haben es in sich. Gnadenlos grillt mich die Sonne. Mein Gehirn kommt, so scheint es mir, in einen Schnellkochtopf, um es förmlich zu verdampfen. Mehr und mehr werde ich zu einer reinen Laufmaschine. Ich sehe nichts mehr – nur noch Weg. Mit wenig Erfolg ermahne ich mich, die Schönheit der Umgebung zu genießen. Ich nehme mir vor, so konzentriert zu bleiben, dass ich nicht an meinem Bauernhof vorbei laufe. Mittlerweile habe ich das komplette Wasser getrunken. Geschmeckt hat die heisse Brühe nicht sie hat mir aber so viel Restkraft gegeben, dass meine Beine und Füsse ihren Dienst ordentlich verrichten.

Um kurz nach vier sehe ich das Agroturismo. Zu meinem Entsetzen gibt es von der Via Francigena keinen Zugang nur ein verschlossenes Tor. Was tun? Ich kann zwei Kilometer zurück und über eine offizielle Straße gehen, was nach der Karten App weitere 2,8 Kilometer bedeutet. No way! Also Rucksack ausziehen, über das Tor werfen und drüber klettern. Das ist gar nicht so einfach, denn es ist bestimmt zwei Meter hoch. Die Zaunanlage ist nicht minder hoch allerdings nicht formstabil. Im dritten Anlauf komme ich hoch und unverletzt auf der anderen Seite wieder runter.

Nach einigem Suchen finde ich zwei junge Männer, die die Ferienanlage, denn ein Bauernhof ist das schon lange nicht mehr, betreiben. Sie sind amüsiert, dass ich alleine ein Apartment mit zwei Schlafzimmern gemietet habe, was kleineres haben sie nur nicht frei. Schnell ist klar, ich bin ein Pilger und sie sind erstaunt, dass ich bei diesem Wetter so weit gelaufen bin. Froh sind sie, dass ich heraus gefunden habe, dass das Vorhängeschloss des Tors auch ohne Schlüssel geöffnet werden kann. Ehrlich wie ich bin, erzähle ich natürlich, dass ich über das Tor geklettert bin. Wir lachen zusammen über meine Ungeschicklichkeit und so entwickelt sich eine nette Unterhaltung.

Nach dem ich mich etwas erholt und geduscht habe, will ich an den Pool. Vorher bekomme ich aber von den beiden Jungs einen Prosecco angeboten und sie wären bereit mir eine Pasta zu kochen. Das lehne ich ab, schließlich will ich die Lebensmittel nicht umsonst über zwanzig Kilometer getragen haben.

Tag 29: 10.06.17

 

Gestern bin ich wieder nach Lucca gereist. Da ich schon am Nachmittag zurück war, habe ich die Gelegenheit wahrgenommen und habe mich durch die Stadt treiben lassen. Sie ist traumhaft schön und unglaublich lebendig.

Heute morgen bin ich bereits um kurz nach sieben los, da ich die kühleren Morgenstunden ausnutzen will. Ich ziehe meine neuen Schuhe und Socken an: ich habe die Chance in Heidelberg genutzt und habe mir neue dünnere Wandersocken gekauft. Meine Adidas sind damit etwas zu groß, so dass ich auf Meindl Schuhe umgestiegen bin. Sie bieten mehr Raum für die Zehen und fassen die Fersen gut ein. Ich hoffe, so das Risiko auf neue Blasen zu senken. Apropos Blasen: die sechs Tage Pause haben meinen Füßen gut getan. Alle Blasen sind weitgehend abgeheilt. Natürlich ist die neue Haut noch sehr empfindlich, so dass ich sie schützen muss. Ich habe eine ganze Tüte voll Verbandsmaterial für unterschiedlichste Anwendung mitgenommen. So bin ich nun bestens gerüstet für die letzten 400 Kilometer bis nach Rom.

Ich verlasse Lucca durch das Ost-Tor und pilgere die nächsten 20 Kilometer auf Straßen entlang von Industriegebieten und komme durch kleinere Orte bis ich Altopascio erreiche.

Altopascio hat einen sehr kleinen Stadtkern mit zwei Stadttoren nach Norden und Süden sowie einigen schönen Plätzen. Eine große Kirche fehlt natürlich auch nicht. Innen ist die Kirche deutlich kleiner als sie von außen wirkt.

Nach Altopascio kann ich endlich die Straßen verlassen und komme auf die für die Toskana typischen Wege und kann die Landschaft mit der Vegetation, die ich so liebe, in vollen Zügen genießen. Wild wachsende Kräuter verströmen einen intensiven Geruch, den ich immer mit Italien verbinde, was meinen Genuss, in der Toskana zu wandern, noch weiter steigert. Ich gebe zu, dass ich mich während meines kurzen Aufenthaltes zuhause mehr als einmal gefragt habe, ob ich wirklich meinen Weg nach Rom weiter gehen soll. Jetzt bin ich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Hier gehöre ich her.

Nach wenigen Kilometern komme ich in einen kleinen Ort, Galleno. Dort mache ich in einer Bar eine Pause. Ich werde sofort als Pilger identifiziert und erhalte einen Stempel in meinen Pilgerpass. Danach werde ich aufgefordert, mich in einem Nebenraum auf einer Wand mit Namen, Herkunft, meinem Weg und dem heutigen Datum zu verewigen, was ich natürlich mache. Die Wände des Raumes sind voll von Unterschriften der Pilger, die in dieser Bar Halt gemacht haben. Wieder kann ich sehen, dass nur wenige den Weg jenseits der Alpen begonnen haben.

Als ich mich wieder auf den Weg mache, geht mir durch den Kopf, was ich in eine Gästebuch geschrieben hätte. Ich erwäge mehrere Möglichkeiten:
(1) Gott hat die Spielregeln aufgestellt. Wir – und ausschließlich wir selbst – sind verantwortlich dafür, was wir daraus machen. Niemand – auch Gott nicht – ist für unser Handeln verantwortlich.
(2) Die uns zugedachte Aufgabe ist es, andere und uns glücklich zu machen.

Zu mehr Optionen komme ich nicht, da ich mich frage, was mich selbst glücklich macht bzw. gemacht hat. Ich komme sehr schnell zu einer relativ kurzen Liste:
(a) eine Familie gegründet zu haben: mit jemanden zusammen (fast) alle Phasen des Lebens zu durchlaufen und Kinder zu selbständigen und verantwortungs-bewussten Menschen großgezogen zu haben
(b) ein Unternehmen geführt zu haben: Menschen eine Perspektive zu geben, ihre Persönlichkeit zu entwickeln, mit ihnen die Erfolge auf unterschiedlichste Weise zu teilen, Fabrikanlagen zum Wohle der Kunden und ihrer Mitarbeiter zu entwerfen und zu realisieren
(c) Freunde zu haben: mit anderen Freude, manchmal auch Leid und oft gemeinsame Aktivitäten zu teilen
(d) Genießen zu können: sportliche „Abenteuer“ wie das Pilgern, Skifahren – welche eine Freude eine frische Spur durch unberührten Pulverschnee zu legen – bei kräftigem Wind zu segeln also die Schönheit und unendliche Kraft der Natur zu erleben und natürlich die Schönheit die wir mit Intelligenz und Energie erschaffen also von Kunst unabhängig ob als Buch, Gemälde, Architektur etc. aber auch essen und trinken
Wenn ich so darüber nachdenke, kommt mir in den Sinn, dass ich für mich Glück und Zufriedenheit in drei einfache Worte fassen könnte: kreieren, teilen, genießen. Ich bin sicher, dass im Umkehrschluss gilt: unglücklich ist, wer sinnloses verrichtet, sich egoistisch verhält und Schönheit nicht erkennt.

Mit diesen Gedanken im Kopf, die ich jetzt nicht die Zeit habe weiter auszuführen, mir aber vornehme morgen wieder aufzunehmen, schreite ich weiter durch die weite Ebene mit tiefem sandigen Boden, die der Arno erzeugt hat. Das baut meine Füße nach den vielen Kilometern auf der Straße wieder auf. So erreiche ich nach 32 Kilometern froh gelaunt „mein“ Hotel Vedute in Le Vedute, einer Siedlung, die ich noch nicht einmal Dorf nennen möchte.

Hier gefällt es mir: eine toll hergerichtete Zufahrt, schöne Zimmer, toller Garten mit Pool, ein Restaurant mit leckerem Essen und feiernde Gäste – als ich ankomme feiert eine Hochzeitsgesellschaft im Garten und am Abend kommt eine große Gruppe junger Mädels, um eine bevorstehende Hochzeit lautstark einzuläuten.

Tag 28: 03.06.17

 

Um 07:00 Uhr verlasse ich mein Zimmer. Hier ist nichts einladend und schmutzig wirkt auch alles. Also nichts wie weg. Trotz des Besuchs von zwei Bars bin ich bereits kurz nach zehn in Lucca, da ich den kürzesten Weg über die Berge nach Lucca wähle. Ich traue mich um die Uhrzeit noch nicht in mein Quartier, so schaue ich mir vorher eingehend die Stadt an. Vorweg: Lucca ist ein Traum.

Lucca erreiche ich über das Nordtor. Gleich nachdem ich das Stadttor passiert habe, erklimme ich die Stadtmauer, auf der ich zunächst oben entlang wandere. Auf Höhe der Basilika San Ferdiano, einem Englischen Bischhof aus dem siebten Jahrhundert, gehe ich hinunter in die Stadt und besichtige die Basilika, wo ich als Pilger keinen Eintritt zu bezahlen habe und einen Stempel in meinen Pilgerpass bekomme.

Von dort schlendere ich durch die Einkaufsstraßen, die natürlich nur Gassen sind zum Duomo di San Martino. Auch hier bekomme ich als Pilger einen Rabatt sowie Gutscheine für reduzierten Eintritt für einige der Museen von Lucca. Einen Stempel der Kathedrale lasse ich mir natürlich auch noch in meinen Pilgerpass drücken.

Ich glaube ich habe schon einmal auf meinem awe beschrieben, dass die Kirchen oft hell und freundlich sind. Das gilt sowohl für die Basilika als auch für den Duomo. Völlig anders als in Spanien sind die Kirchen nicht so überfrachtet mit Dekoration vor allem aus Gold und Silber. Hier sind es mehr Malereien, bildhauerische Arbeiten und dekorativen Fenster. Sie sind deutlich weniger protzig. Das macht sie für mich sympathischer und ansprechender. Für diesen Stil stehen bisher der Duomo in Sarzana und die beiden Kirchen in Lucca. Damit dass die Kirche in Kunst investiert und damit Künstler unterstützt hat, verleiht ihr in meinen Augen eine sehr respektable Stellung, unabhängig davon wie sie zu dem Reichtum gelangt ist und dass sie schon immer, und das gilt leider bis heute, ein stark retardierendes Moment in der Entwicklung unserer Gesellschaft darstellt. Mir wird, wenn ich darüber nachdenke und schreibe, bewusst, dass ich leider viel zu wenig weiss, welche Rolle die Kirche in Italien gespielt hat und wie sie ihre Macht in diesem Land ausgeübt hat. Ich nehme mir vor, mich diesem Thema in nächster Zeit etwas anzunehmen.

Um zwölf und mittlerweile 18 Kilometern – 2/3 meines Weges also 800 Kilometer sind bewältigt – suche ich mein Hotel, das Mitten in der Stadt liegt. Mehrfach laufe ich nach meinem Navi daran vorbei. Die Straße stimmt, trotzdem sehe ich keinen Eingang zu einem Hotel; die Restaurants heißen auch alle anders. Noch einmal checke ich die Adresse und den Namen. Jetzt suche ich gewissenhaft die Hausnummer. An der richtigen Hausnummer gibt es nur eine Haustür, sonst nichts. Dann sehe ich ein kleines Schild von vielleicht 10×10 cm mit dem Namen: Antica Residenza DellAngelo. Ok, ich scheine richtig zu sein. Dann gehe ich mal hinein. Ich muss eine steile Treppe mit hohen Stufen ins erste OG hoch klettern. Dort gibt es wieder ein kleines Schild Rezeption. Hier ist ein Minitresen aber sonst nichts. Als nach 5 Minuten noch niemand da ist, rufe ich im Hotel an. Jetzt höre ich eine Dame rufen, dass sie schon unterwegs sei. Als sie die Treppe herunter kommt, erklärt sie mir, dass ich noch nicht einchecken könne. Das ginge erst ab 15:00 Uhr. Ich sage ihr, dass ich aber jetzt schon da bin. Sie hat ein Einsehen mit mir. Die Zimmer seien noch nicht fertig. Ich könne mich umziehen und meinen Rucksack im Zimmer lassen. Um zwei habe sie mein Zimmer fertig. Das akzeptiere ich und bekomme das Zimmer direkt an der Rezeption. Es ist eine zwei Zimmerwohnung. Mit einem schönen roten, ich vermute, Backsteinboden, einer Decke aus Holzbalken, in der die Backsteine der nächsten Ebene eingelegt sind und einem fantastischen Bad gestaltet mit Mosaikfliessen und modernsten Badezimmerobjekten. Das ist super, hier fühle ich mich wohl. Erst jetzt lerne ich, es ist auch nicht wirklich ein Hotel. Die Signora vermietet ihr Haus, das vier Etagen mit je zwei Wohnungen hat. Die Vermietung übernimmt booking.com und weist es als Hotel aus, was es aber im klassischen sinne nicht stimmt. Es gibt auch keinerlei Hotelservices also kein Frühstück, kein Wäscheservice etc.

Ich ziehe mich schnell um und gehe wieder in die Stadt, damit die Seniora das Zimmer aufräumen und für mich fertig machen kann. Nun mit Flipflops an den Füßen schlappe ich durch die Stadt. Das komplette Zentrum, also alles was innerhalb der komplett erhaltenen Stadtmauer liegt, ist historisch. Es gibt keine Neubauten. Die Häuser müssen von den Besitzern in ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild erhalten und dürfen/müssen ständig renoviert werden. Die Häuser sind, verglichen was ich bisher auf der Via Francigena gesehen habe, in einem hervorragenden Zustand. Natürlich gibt es immer mal wieder ein Haus, das dem Zerfallen nahe ist, das sind tatsächlich nur einige wenige.

Die Stadt ist voll von Touristen. Überall hört man Deutsch und Englisch neben natürlich Italienisch. Dass die Menschen vom Tourismus leben, lässt sich schon daran erkennen, dass man überall in Geschäften und Restaurants Englisch sprechendes Personal vorfindet.

Um halb drei komme ich zurück ins Hotel, das Zimmer ist fertig und ich kann mit meiner täglichen Routine Wäschewaschen und Duschen beginnen. Danach mache ich einige Bilder aus dem Fenster meines Zimmers, runter auf die Strasse und auch rüber zur Chiesa di San Michele in Foro. Von ihrer Facade mache ich später noch eine Aufnahme, als die Sonne sie schön hell beleuchtet. Auch zum Abendessen gehe ich wieder runter und lass die Stadt auf mich wirken: jung, modern, hip, alles andere als morbide, trotz des historischen Umfeldes. So muss eine Stadt sein: seine Historie Samstag seiner Kunst erhalten und dem Zeitgeist zu ihrer Permanenten Erneuerung folgen.

Ach ja: ich muss noch einmal aus geschäftlichen Gründen nach Heidelberg. Am Freitag bin ich wieder zurück und der nächste Bericht folgt am kommenden Samstag vermutlich aus Altopascio, von wo es ins Chianti-Gebiet geht.

Tag 27: 02.06.17

 

Ich komme schlecht aus dem Bett und brauche ewig, bis ich mich fertig bin. Es ist bereits 07:30 Uhr bis ich Abmarsch bereit bin. Als ich am Frühstücksraum vorbei komme, sehe ich ein für italienische Verhältnisses tolles Frühstücksbüffet. Da es eh schon spät ist, kommt es jetzt auf eine halbe Stunde nicht mehr an, denke ich mir. Außerdem will ich heute nur bis Camaiore, das ist etwa der halbe Weg bis Lucca und lediglich gut 20 Kilometer. Also Frühstück!

Ich esse frisches Obst, Joghurt, Croissants mit Honig und bekomme auch noch frisch gepressten Orangensaft. Währenddessen schaue ich schon mal, welches B&B oder Albergo ich buchen möchte. Unangenehme Überraschung: Camaiore und die weitere Umgebung ist ausgebucht. Das kann ich gar nicht glauben. Also rufe ich bei drei verschiedenen Häusern an und tatsächlich alle ausgebucht. Der letzte von den Dreien erzählt mir, dass heute Feiertag in Italien ist und viele Italiener das lange Wochenende nutzen, um Radtouren zu unternehmen. So ein Ärgernis, das nächste B&B ist keine 15 Kilometer von Lucca entfernt, was aber eben auch bedeutet, es sind gut 35 Kilometer von Marina di Massa. Das wäre nur halb so wild, wäre es nicht schon bereits 08:30 Uhr. Aber was bleibt mir anderes übrig, ich buche es, obwohl es nur ein Gemeinschaftsbad hat und vermutlich super einfach sein wird.

Bis ich dann bezahlt habe und tatsächlich raus auf die Straße komme, ist es schon 09:00 Uhr. Will ich nicht erst nach 18:00 Uhr ankommen, muss ich wohl mal Gas geben. Ich ignoriere meine Blasen und stürme los: ca. acht Kilometer auf der Promenade, so nennt sich die hässliche Straße entlang des Strandes, bis ich abbiegen darf ins Hinterland.

Nach zwei Stunden habe ich etwa elf Kilometer geschafft. Die Strümpfe sind feucht und der Ballen am linken Fuß signalisiert Ungemach. Also trinke ich in der nächsten Bar einen Café und natürlich einen Liter Wasser, während ich die Strümpfe tausche und vorsichtshalber mal unter beide Ballen ein Blasenpflaster klebe. Sofort fühlen sich die Füße deutlich wohler. Darauf trinke ich noch einen Café.

Nach 20 Kilometer, noch immer bin ich schnell unterwegs, habe ich Hunger. In einer Bar, die von Chinesen betrieben wird, esse ich eine Focaccia und dazu gibt es einen Cappuccino. Die Bar hat etwas von einer typisch italienischen Bar gepaart mit dem Chaotismus von Chinesen. Das gefällt mir und ich bleibe eine Weile, so dass ich gut erholt die letzten 15 Kilometer ausgeruht angehen kann. Kurz darauf komme ich durch die gut erhaltene Altstadt von Camaione. Hinter dem Städtchen geht es wieder hoch in die Berge. Ich überhole eine Gruppe von mindestens zwanzig italienischen Wanderern auf meinem Weg hoch auf die Berge. Ich schwitze; gefühlt verliere ich pro 20 Höhenmeter einen Liter Wasser. Von oben habe ich einen traumhaften Blick. Gott sei Dank gibt es auf der „Passhöhe“ eine Bar: zwei Saft und ein halber Liter Wasser verschwinden in mir innerhalb von einer vielleicht doch eher fünf Minuten. Der Barmann lächelt mich zahnlos, ob meines Durstes, an. Ich fülle noch schnell meine beiden Wasserflaschen auf. Es sind zwar nur noch gut sechs Kilometer, erschöpft, wie ich bin, können die sich noch ordentlich ziehen.

Olivenbäume dominieren nun das Landschaftsbild. Das sieht toll aus, nur spenden die keinen Schatten, den ich so gerne hätte. Ich werde immer langsamer. Dann, völlig am Ende meiner Kräfte, erreiche ich meine Herberge. Ich gehe zunächst daran vorbei aber die Gastgeberin, eine junge Frau, ruft hinter mir her, dass dies das B&B Il Tiglio sei. Froh wende ich mich und komme herein. Ihr Mann zeigt mir die Gemeinschaftsküche, das Bad und mein Zimmer. Na ja, das ist nicht nur einfach, das ist primitiv und auch nicht wirklich sauber. Die beiden sind sehr nett zu mir und ich setze mich zu Ihnen in den Garten, nachdem ich meine Sachen und mich selbst gewaschen habe. Die beiden sind so schüchtern, dass sie sich nicht so recht trauen, sich mit mir zu unterhalten.

Ich gehe um acht in das einzige Restaurant des Dörfchens und bin ebenso der einzige Gast in dem riesigen Restaurant. Ich darf mir einen Tisch auswählen. Ich gehe davon aus, dass ich dann wohl der einzige bleiben werde. Weit gefehlt, um halb neun kommen zwei Paare und dann geht es Schlag auf Schlag und um neun ist es voll. Das ist definitiv anders als gestern Abend als ich um acht der letzte Gast war. Ein weitere Unterschied: das Essen schmeckt richtig gut und ist super günstig. Das Geschäftsmodell für Getränke ist ebenso anders: man bestellt Wasser und Wein. Unabhängig von der Mengenangabe wird eine Flasche Wasser und eine Flasche Wein auf den Tisch gestellt. Nachdem ich die erste Falsche Wasser getrunken habe, bekomme ich automatisch eine zweite Flasche (und das für 1,5 €). Ob das mit dem Wein auch so wäre?

Tag 26: 01.06.17

 

Ich chille am Pool meines Hotels auf einem Sofa. Im Hintergrund läuft Lounge-Musik und ich trinke ein Glas Weißwein. Das Hotel, das ich mir für heute Nacht ausgesucht habe, heißt bezeichnenderweise Luna – ein wirklich hübsches Hotel mit sehr viel Charme. Ach ja, ihr wisst ja gar nicht wo ich bin: ich habe nach über 30 Kilometern Marina di Massa erreicht. Nach einem kurzen Abstecher in den Ligurischen Teil Italiens bin ich wieder zurück in der Toskana. Marina die Massa ist ein Strandbad mit den Marmorsteinbrüchen von Carrara im Hintergrund.

Heute morgen bin ich früh aufgebrochen und habe das hübsche Bergdorf, in dem ich so gut gegessen und geschlafen habe, verlassen, um aus den Bergen in die Ebene Liguriens und später der Toskana zu gelangen. Erste Station war Sarzana. Ein toller Ort mit gut erhaltener Stadtmauer und -toren im Westen und Osten der Stadt. Die Kathedrale ist innen extrem schlicht gehalten. Es ist ausgesprochen hell in der Kirche. Es gibt nur einige wenige dekorative Elemente, was sie bsonders interessant macht.

Von Sarzana aus pilgere ich am Rande der Marmorberge weiter durch viele Dörfer, bis ich nach Avenza komme. Avenza ist eine Industriestadt, in der überall Betriebe angesiedelt sind, die den Carrara Marmor verarbeiten. Entsprechend staubig ist es überall. Der Ort zieht sich bis ans Tyrrhenische Meer. Später geht er über in Marina di Carrara und dann in Marina di Massa, meinem Tagesziel.

Es ist unterwegs unglaublich heiß. Erst jetzt fällt mir auf, wie angenehm es in den Bergen mit den Schatten spendenden Wäldern war. Die Sonne versucht mich, im eigenen Schweiß zu kochen. Meine Haut an den Füßen wirft entsprechend ordentlich große Blasen, die ich mit antibiotischer Creme behandelen muss.

Da ich in einer „richtigen“ Stadt bin, ergreife Ich die Gelegenheit und gehe zu einem Friseur, der mir die Rezeptionistin im Hotel empfiehlt. Dort geht es zu, wie ich es aus meiner Kindheit kenne: man kommt ohne Termin und wartet bis man an der Reihe ist. Die Wartenden unterhalten sich miteinander und natürlich mit dem Friseur, der selbst eine ansprechende Frisur hat, wie auch seine Frau. Die Kunden, so scheint mir, erhalten alle den selben Schnitt und das geht ruck zuck, da er eine Schneidemaschine benutzt. Keine zehn Minuten und fertig ist der Haarschnitt. Alle haben anschließend kurze und über den gesamten Kopf gleich kurze Haare. Das will ich nicht und zweifle, ob ich mir das antun soll. Ich bleibe, da ich so lange, wuchernde Haare habe, dass ich sie kaum noch im Griff habe. Ich muss mich nach dem Duschen bereits föhnen. Das ja geht gar nicht. Also versuche ich, dem Friseur klar zu machen, mein Schnitt wird vom Standard abweichen und er muss Schere und Effelierschere benutzen. Maximal sind 5mm abzuschneiden. Der Friseur amüsiert sich über mich und scherzt mit den anderen Kunden. Leider kann ich alles verstehen. Als ich ihn abhalte seine Schneidemaschine zu nutzen, um den Nacken zu bearbeiten, bekommt er sich gar nicht mehr ein vor Lachen, holt einen Spiegel, zeigt mir jetzt laufend, was er macht und nimmt doch tatsächlich eine Rasierklinge, um meine Nackenhaare zu entfernen. Aufmerksam wie er ist, befreit er meine Ohren von Haaren und trimmt auch meine Augenbrauen. Der Schnitt ist zwar nicht perfekt aber er ist in Ordnung. Als ich raus bin, bricht Gelächter aus. Die haben offensichtlich ihren Spaß mit mir.

Da ich noch nicht am Strand war, gehe ich vor dem Abendessen zum Strand. Da ist alles zu: keine Bars, keine Restaurants. Auch der Strand ist zu. Im zwänge mich durch eine Lücke im Zaun und bin erschrocken. Mir war bewusst, dass Geschäftemacher Sonnenschirme und Liegestühle verleihen aber was ich hier erblicke, übertrifft mein Vorstellungsvermögen in der Nutzung eines Strandes – also eines Stückes Natur. Liegestuhl an Liegestuhl, kaum Platz um zwischen ihnen hindurch zu kommen. Am Wasser ist ein Streifen von vielleicht ein bis zwei Meter frei. Entweder ist gerade Hochwasser oder es gibt kein Ebbe und Flut im Tyrrhenischen Meer. Eins ist absolut sicher, Urlaub werde ich hier nicht machen. Kein Wunder, dass Mallorca so beliebt ist. Mir stellt sich die Frage, was macht man als Urlauber hier den ganzen Tag. Marina di Massa bietet einfach nichts. Wenn ich darüber nachdenke, will ich gar nicht mehr wissen, was Menschen hier her treibt, um Urlaub zu machen. Das Ergebnis wäre vermutlich zu niederschmetternd.

Damit ist auch geklärt, dass ich morgen Abend nicht in einem Ort am Meer wie zum Beispiel Viareggio bleiben werde. Ich werde mich Richtung Hinterland orientieren.

Tag 25: 31.05.17

 

Den Tag beginne ich mit einem Cappuccino und einem Brioche, da ich bis nach Aula, das sind etwa 24 km, nur durch die Pampa wandere. Hier und dort gibt es einige Hausansammlungen, in denen ich keine Bars erwarte Bars.

Toll an der heutigen Route: ich gehe nicht einmal auf der Straße außer in Aula selbst. Dafür allerdings ständig hoch und runter. Die höchste Erhebung ist gut 500 m üNN, trotzdem schaffe ich es auf über 1.250 Höhenmeter.

Die Landschaft ist herrlich. Es gibt eine Vielzahl mal größerer mal kleinerer Flüsse und Bäche, die die Erde und auch die Luft feucht halten. Bei der Wärme ideal für die Vegetation. Entsprechend sind die Wege schmal und oft zugewuchert. Das reduziert meine Geschwindigkeit erheblich.

Mitten in der Wildnis komme ich an einem sehr gepflegten Weingut, das keine Strassenanbindung hat, vorbei. Die Ansiedlungen, die ich durchwandere, geben sich, als hätten sie sich seit dem Mittelalter nicht mehr weiter entwickelt.

Trotz der meist unberührt wirkenden Natur hat die Zivilisation ihre Hand im Spiel. Es gibt am Wegesrand Rastplätze zum Grillen und Picknicken. Ich frage mich, wer die nutzt, denn die Wege sehen nicht so aus, als würden sie benutzt werden. Als ich nach zwei Stunden an einem solchen mal wieder vorbei komme. Raste ich. Ich esse eine Aprikose und einen Apfel. Danach dürfen meine Füße ruhen. Also lege ich mich auf eine Bank, den Rucksack als Kopfkissen und schon schlafe ich ein. Nach einer Stunde wache ich wieder auf. Gut dann haben nicht nur die Füße etwas Ruhe bekommen.

So jetzt aber geschwind nach Aula. Anders als die Führer finde ich diese s Städtchen gar nicht schön und einladend. Es ist eine Industriestadt und so gibt sie sich auch. Am Ortsausgang finde ich eine hübsche Bar, die von einem jungen Pärchen geführt wird und sich sehr um mein Wohlergehen bemühen. So esse ich nicht ein einfaches Panino sondern bekomme einen leckern Crêpe bereit. Sie sind der Meinung, ich brauche etwas warmes.

Ich muss mich entscheiden, was ich mache. Typischerweise ist Aula eine Übernachtungsstation. Ich will aber noch weiter: (a) gefällt es mir hier nicht und (b) ich fühle mich noch fit genug für ein paar Kilometer. Ich hatte eigentlich gehofft, es bis Sarzana zu schaffen. Das ist aber definitiv zu weit. Laut Google Maps sind es noch 18 km. Dann käme ich auf über 40 km. Das würde ich zwar schaffen, ich weiß nur nicht, ob meine Füße dann wieder streiken und ich bin froh, dass sie einigermaßen wieder funktionieren – über Blasen möchte hier allerdings nicht sprechen, denn so wie die Sehnenschmerzen zurück gegangen sind so sind die Blasen gesprossen. Die feuchte Wärme ist scheinbar besonders gut für Blasenbildung.

Zwischen Aula und Sarzana gibt es in den Bergen noch genau einen Ort durch den ich kommen werde. Dort gibt es auf booking.com ein B&B, das ich dann auch so gleich buche. Laut booking.com muss man spätestens bis 14:30 Uhr ankommen. Es ist schon fast zwei und es sind bis in den Ort noch etwa 12 km. Nicht zu schaffen. Also Vermerke ich bei der Buchung, dass ich erst um 17:00 Uhr ankommen werden. Eine Dame schreibt zurück, dass sie bis 18:00 Uhr im Hause sei und dann weg müsse. Ich frage per Email, ob es ein Restaurant, Pizzeria oder eine Bar im Ort gibt, wo ich zu Abend essen kann oder etwas zu essen mitbringen muss. Sofort erhalte ich die Antwort: ja es gibt ein Restaurant aber eben auch nur eins. Das reicht mir und alle mal besser als aus der Bar in Aula ein Panino mitzunehmen.

Die 12 km nach Ponzano Superiore haben es in sich. Ich komme an meine Leistungsgrenzen. Hitze und Feuchtigkeit tun ihr übriges, um mich an den Rand der totalen Erschöpfung zu bringen. Kurz vor Ponzano meldet meine Uhr, dass noch niemand so viele Kalorien beim Wandern verbrannt hat wie ich und dies ein neuen Rekord darstellt. Ehrlich, das hilft mir auch nicht und so schleppe ich mich an mein Tagesziel. Wow, was für ein Ort. Er liegt auf einem Berg mit Sicht bis zum Meer. Zwar habe ich nicht mehr die Kraft den mittelalterlichen Stadtkern zu besichtigen, ich gehe direkt am Rande dieses Stadtkerns zu meinem B&! Von wo ich zum Meer Richtung La Spezia sehen kann. Einfach unglaublich!

Als ich die Wirten frage, wie ich zu dem Restaurant komme erklärt sie mir doch glatt, dass ich knapp zwei Kilomet den Berg runter gehen muss. Zwei Kilometer hin und zwei Kilometer zurück sind vier Kilometer. Da hätte ich ja gleich nach Sarzana marschieren können. Die Wirtin sieht wohl mein Entsetzen und sagt, dass das Restaurant weit und breit das einzige sei, dafür aber exzellent. Sie bietet an, mir einen Tisch zu reservieren. Ok, mir bleibt schließlich nichts anders übrig. Denn eins ist sicher ohne Abendessen, kann ich gleich für morgen ein Taxi bestellen. Dann fragt sie, wann ich morgen frühstücken möchte. Da ich so nahe an Sarzana bin, möchte ich darauf verzichten. Das lässt sie nicht zu: ich müsse zumindest ihren selbst gebackenen Kuchen probieren. Gut dann werde ich diesen probieren und einen Cappuccino dazu trinken.

Heute brauche ich über zwei Stunden, um mich von dem Tag zu erholen. Mir graut vor dem Weg zum Restaurant: soll ich in Flipflops gehen oder doch Schuhe anziehen und meine Blasen in Aufruhr versetzen. Ich entschließe mich für Schuhe. Vier Kilometer in Summe scheinen mir doch etwas ambitioniert für Flipflops zu sein.

Das Restaurant entpuppt sich als ein absoluter Hit. Das beste nach dem Restaurant des Alpes am Fußes des Großen St. Bernhard. Ich bin begeistert und esse gegen meine Gewohnheit sogar einen Nachtisch.

Heute komme ich auf 36 km, 2.200 kKalorien, 3,8 l Flüssigkeitsverlust und 1.250 m Höhenmeter.

Tag 24: 30.05.17

 

Mein Gastgeber, der ganz alleine in dem großen Haus so abseits wohnt, wartet schon mit dem Frühstück auf mich. Also nehme ich Platz, trinke einen Cappuccino und esse zwei Toast mit Honig von seinen eigenen Bienen. Da er nun schon mal um mich herum wirbelt, frage ich ihn, wie ich am besten auf die Via Francigena zurück komme: ich bin mir nicht sicher, ob der Weg, den ich mir ausgesucht habe, über die Autobahn führt oder dort endet. Das weiß er auch nicht genau, empfiehlt aber so wie so die alte, originale Route, die durch Montelungo an seinem Haus vorbei ging. Was er mir auf einer alten Wanderkarte zeigt, erstaunt mich, da in meiner Wanderkarten-App dort noch nicht einmal Wege verzeichnet sind. Er betont auf meine Nachfrage, dass der Weg noch immer existiert und ich keine Straße zu gehen habe. So richtig überzeugt bin ich noch nicht, weil ich gar nicht weiß, ob ich die Route finden kann. Da mein Weg und der alte Pilgerwege die ersten ca. 500 m identisch sind, laufe ich unentschlossen los. An der Entscheidungsstelle gibt es einen Wegweiser, der die alte Route markiert. Ok, das überzeugt mich und tatsächlich ist der Weg bestens ausgeschildert, so dass ich mich nicht verlaufen kann.

Was mich froh stimmt, die Route ist landschaftlich unglaublich schön. Lange gehe ich durch mal lichteren mal dunkleren Wald. Wie gestern schon umschwirren mich Insekten und ständig kleben an mir die Reste von Spinnweben. Häufig sehe ich Eidechsen verschiedenster Größen und Farben sich sonnen und davon sprinten, sobald sie meiner gewahr werden. Wieder einmal muss ich durch einen Fluss. Ich ziehe mich soweit notwendig aus und wate hindurch. Kaum habe ich mich wieder angezogen. Höre ich ein komisches Geräusch. Es erinnert mich an Grunzen, meine aber zwei schwarze recht bullige Hunde zu sehen. Das gefällt mir gar nicht. Fast jeder Haushalt seit Aosta hält Hunde, die mich sehr häufig extrem aggressiv anbellen. Noch im letzten Ort, bevor ich in den Wald bin, hat jemand seine beiden Hunde frei herumlaufen lassen. Die beiden haben mich regelrecht gestellt. Erst als ich meinerseits aggressiv auf die beiden zu bin, wurden sie ruhiger und haben auf ihr Frauchen gehört. Ich hebe vorsichtshalber mal einen Stein auf auch wenn er mir im Zweifelsfalle nicht viel hilft. Es gibt mir aber ein besseres Gefühl. Als ich wieder aufschaue, flieht eine ganze Gruppe, nun richtig grunzend, Wildschweine – also keine Hunde – vor mir. Ich bin mir nicht sicher, ob mich das beruhigen oder eher beunruhigen sollte. Da ich keine Frischlinge sehe, werden die mich wohl nicht angreifen. Kaum gedacht, springen drei kleine gestreifte Wildschweinchen auf und rennen geschwind hinter den Großen her. Als einige Minuten nichts passiert, werfe ich den Stein ins Gebüsch, aus dem in diesem Moment ein Reh heraus springt. Was ist denn hier los?

Der Wald und die Tiere versetzen mich in eine regelrecht euphorische Stimmung. Ich fühle mich eins mit der Natur. Die mir zugleich ein beruhigendes und energiegeladenes Gefühl vermittelt. Ich erkenne die Schönheit, sehe aber auch die Brutalität von fressen und gefressen werden. Gut ist, dass mich kaum jemand fressen will und sicher alle Tiere im Wald zunächst einmal Angst vor mir haben. Würde ich stürzen und nicht weiter kommen, bin ich aber auch sicher, würden sie sofort über mich herfallen. Zum Beweis meiner Gedanken hat jemand den Schädel eines Tieres an einen Ast gehängt.

Es zeigt mir wie nahe ich an der Schöpfung bin. Das vergesse ich immer wieder schnell, sobald ich zurück in der Zivilisation bin, in der auf einen im eigentlichen Sinne keine lebensgefährlichen Gefahren lauern. Denn so viele Terroristen laufen ja nicht herum, wenn sind es eher die Autos bzw. ihre Fahrer, die mich in Angst und Schrecken versetzen.

Mit diesen Gedanken erreiche ich Pontremoli mit seiner Burg und seinem mittelalterlichen Stadtkern. Auf dem zentralen Platz ruhe ich mich in einer Bar aus. Bei genauerem Hinschauen kann ich nicht umhin, eine gewisse Morbidität in dieser Stadt zu erkennen. Die Menschen sind alt, die Häuser zerfallen, an vielen Geschäften sind die Schaufenster und Türen vernagelt, vieles steht zum Verkauf und nun treffe ich auch noch auf eine Kammerjägerin. Viele Orte auf meinem bisherigen Weg vermitteln, dass die Bevölkerung überaltert ist und es nicht mehr lange dauert, bis die Orte unabhängig ob Stadt oder Dorf völlig verlassen sein werden. Viele der Kulturdenkmäler und -gebäude sind ebenfalls in einem jämmerlichen Zustand.

Nach Pontremoli ändert sich das Landschaftsbild gewaltig. Im Hintergund sind noch die zum Teil schroffen Berge der Apennin zu sehen, tatsächlich laufe ich nun durch eine liebliche leicht hügelige Landschaft. Jeder Ort hat noch ein mittelalterliches Zentrum, durch das der Pilger hindurch geleitet wird.

Dann stehe ich überraschenderweise vor meinem heutigen B&B. Nach Google Maps hätte ich noch ein ganzes Stück weiter gehen müssen. Das B&B heißt bezeichnenderweise „alte Pfarrei“ und gegenüber steht eine uralte Kapelle mit einem Friedhof. Ich gehe mal davon aus, dass das eher ein gutes Omen ist.

Tag 23: 29.05.17

 

Wie zu erwarten war, brauchte ich in dem Ostello das Zimmer mit niemanden mehr teilen. Das war mir sehr angenehm.

Um kurz vor sieben bin ich bereits auf der Piste, ohne Frühstück versteht sich. Aber mit sorgfältig abgeklebten Blasen. Die ersten beiden Kilometer muss ich auf der Straße laufen. Auch wenn kaum Verkehr herrscht, bin ich kein großer Freund vom Wandern auf Straßen. Dann kann ich wählen Straße oder Via Francigena Sportivo. Gemeint ist, es geht durch den Wald und durch die Berge. Ich wähle die Sportivo Option. Meine Füße freuen sich darüber. Ich muss feststellen, dass es deutlich angenehmer ist, wenn Wege vom Untergrund her wechselhaft sind. Das fordert mehr Konzentration und vor allem ständige Herausforderungen an die Füße und Beine, den wechselnden Bedingungen nachzukommen.

Mal abgesehen davon, dass der Bewegungsapart mehr gefordert ist, macht es auch einfach viel mehr Spaß, durch Wälder und Felder zu pilgern. Unmengen von Insekten umschwirren mich. Fette Beute für Spinnen, die überall kreuz und quer über die Wege ihre Netze spinnen. Ständig raschelt es, weil irgend ein Reptil vor mir flüchtet. Die Luft riecht nach dem Nektar der Blüten. Die höhere Konzentration beim Laufen und die körperlichen Anstrengungen beim Erklimmen der Berge steigern bei mir die Wahrnehmungsfähigkeit der anderen Sinnesorgane.

So komme ich nach etwa 12 Kilometern nach Berceto, einem kleinen Städtchen mit einem Dom. Dort esse ich ein Panino und trinke zwei Cappuccino. Ich ziehe meine Schuhe aus und mache es mir gemütlich. Während ich frühstücke, lese ich die FAZ. Erst nach einer guten Stunde mache ich mich auf, den Passo della Cisa zu erklimmen, wieder gibt es eine Sportivo Variante.

Kaum habe ich den Ort verlassen, kommt mir eine Spaziergängerin entgegen, die ihren Hund ausführt. Der Kleine hat kein Scheu vor mir und will mit mir spielen. Ich lasse mich darauf ein, was dem Frauchen nicht so recht ist. Aber ihr Hund hört einfach nicht auf sie. Der Hund springt an mir hoch und animiert mich, weiter mit ihm zu spielen. Er

erreicht doch glatt mein Gesicht. Jetzt bekomme ich von ihm ein „Küsschen“. Will heißen, er schleckt mir ordentlich durchs Gesicht. So jetzt ist Schluss. Das kann ich nicht leiden.

Die Wege werden immer enger und feuchter. Hier oben wuchern Himbeeren, Brombeeren und Holunder, der besonders intensiv duftet. Mal wieder raschelt es vor mir. Ich achte da schon gar nicht mehr drauf. Sollte ich aber besser mal tun. Fast trete ich auf eine ebenso erschrockene Schlange, die aufgerollt auf dem Weg liegt und aufgrund ihrer Länge nicht schnell genug vor mir fliehen kann. Man ist dieses grüne Ungeheuer lang und dick. Ich hoffe nur, dass sie keinen Appetit auf mich hat: so groß war sie dann doch nicht. Ab sofort achte ich wieder auf die Tiere, die vor mir ins Gebüsch sausen.

Nun erreiche ich den Csio Pass und damit die Grenze zwischen der Emilia-Romagna und der Toskana. Zwei Café in der Bar auf der Passhöhe können nicht schaden, bevor ich die kleine Kirche auf dem Hügel oberhalb des Passes besichtige und runter in den nächsten Ort marschiere, wo ich heute übernachten werden.

Ich habe ein Zimmer in einem etwas abseits gelegenen B&B. Ein Haus das etwa 200 m unterhalb des Dorfes mitten im Grünen liegt. Ich fühle mich wohl, meine Füße jammern nicht sonderlich, obwohl ich es heute wieder auf 28 km gebracht habe.

Tag 22: 28.05.17

 

Ich sitze in einer Bar in Cassio hoch oben in den Bergen und lasse es mir gut gehen. Das Wetter ist perfekt und es ist erst kurz vor eins. Ich habe bereits um halb elf mein Ziel erreicht. Störend sind in dieser Idylle im besten Fall die vielen Motorradfahrer, die mit weit überhöhter Geschwindigkeit durch diesen hübschen kleinen Ort rasen.

Ich habe ein Bett in dem Ostello di Cassio bekommen. Auf den nächsten 25 km gibt es keine Unterkünfte mehr, also bleibe ich hier, obwohl ich nun doch zum ersten Mal auf der Via Francigena in einer Gemeinschaftsunterkunft mit Shared Rooms übernachten muss und nicht zu meiner präferierten Unterkunftsart gehört. Ich bin gespannt, wie viele Mitschläfer ich heute Nacht haben werde. Vorteil des Ostello’s ist der großer Garten mit Wäscheleinen und -klammern. So wasche ich nicht nur mein Funktionsshirt, Socken und Unterhose sondern auch meine Wanderhose, die ich in der vergangenen Woche mehrfach durchgeschwitzt habe und ganz staubig ist. In der Sonne wird sie sicher bis heute Abend getrocknet sein.

Ich habe mir mittels meiner Wanderkarten-App einen schönen Weg hier her ausgesucht, der mich nur kurz vor Cassio entlang einer Straße führt. Im wesentlichen geht es die drei Stunden, die ich heute pilgere bergauf. Der höchste Punkt ist 900 m üNN. Ich laufe auf landwirtschaftlich genutzten Wegen, durch Wälder und komme nur durch eine kleine Ansiedlung mit einer Kirche, die auf einer Felsennase sitzt und so von der Ferne imposant wirkt. Nach schon 13 Kilometern erreiche ich das Dörfchen Cassio, in dem sonntäglich Stimmung herrscht.

Ihr wollt sicher wissen, wie es meinen Füßen geht; ich auch: nach den kurzen Etappen gestern und natürlich heute fühlen sie sich fast normal an. Die Schmerzen in der Ferse des linken Fußes sind in der Zwischenzeit ertragbar. Ob es besser geworden ist oder nur die Schmerztabletten ihre Wirkung entfaltet haben, weiß ich nicht. Aber der linke Fuß ist einigermaßen ok. Am rechten Fuß ist das Blasenkonglomerat so groß, dass ich zwei große Blasenpflaster benötige, um sie abzupolstern. Ich glaube, meine doppellagigen Wright-Socks sind für die Temperaturen zu dick. Ich schwitze zu sehr in ihnen, mit der Folge dass die Nähte des Aussensocken dann doch immer wieder scheuern. Ich muss in der nächsten Stadt nach einem Sportgeschäft Ausschau halten, um mir andere Socken zu erwerben.

Ich verbringe mehr oder weniger den gesamten Nachmittag in der Bar. Die meisten Leute kommen und gehe. Es gibt aber auch einige, die seit heute Vormittag dort sitzen. Einige habe ich schon gesehen, als ich an der Bar vorbei bin, um zum Ostello zu gelangen. Die sitzen auch jetzt noch. In den letzten beiden Stunden haben wir zusammen das Formel 1 Rennen in Monaco geschaut. Kaum ist es vorbei, wird auf einen anderen Sportkanal umgeschaltet, wo Radrennen gezeigt werden. Wie so oft ist es auch in dieser Bar sehr nett, da alle versuchen mich in ihre Gespräche einzubeziehen, was heute mit dem Formel 1 Rennen als Basisgesprächsthema einfach ist. Man braucht nicht viele Sprachkenntnisse, um sich über das Rennen, seine Favoriten und das Geschehen zu unterhalten.

Zurück im Ostello darf ich zu meiner großen Freude feststellen, dass ich (noch) der einzige Pilger bin. Da ich bisher wenige Pilger getroffen habe, hätte mich alles andere auch sehr überrascht. Noch ist allerdings nicht Abend und es können ja noch Spätankömmlinge eintrudeln.

Tag 21: 27.05.17

 

Ich wache auf und mein linker Fuß schmerzt höllisch und ist nicht belastbar. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Mit dem Schmerz schaffe ich keinen Kilometer. Aber jetzt aufgeben? Das kommt nicht in Frage! Soll ich einen Tag Pause machen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das reichen sollte. Ich mache mich mal fertig und frühstücke. Dann schaue ich weiter.

Nach dem Frühstück hole ich meinen Rucksack und die Sachen, die ich hier im Hotel deponieren will, aus meinem Zimmer. Die junge Frau an der Rezeption fragt, was ich vor habe. Ich erzähle ihr, dass ich ein Pilger auf dem Weg nach Rom bin und aufgrund des Rucksackgewichts und der vielen asphaltierten Wege meine Füße mich nicht mehr weiter tragen wollen. Rom ist ein gutes Stichwort für sie. Sie ist Römerin und ihre Mutter betreibt ein B&B direkt gegenüber dem Vatikan, das sie sehr empfiehlt. Natürlich bekomme ich die Adresse von Barbara ihrer Mutter.

Während des Frühstücks habe ich mir überlegt, zunächst einmal nicht die Straße zurück in den letzten Ort auf der Via Francigena zu gehen sondern statt dessen mehr oder weniger querfeldein über den Berg direkt in den nächsten Ort zu wandern, wo ich über Bahnlinie, Autobahn und Fluss muss. Dort werde ich wieder auf die Via treffen. Das hat den Vorteil, dass ich zunächst bergauf und dann bergab muss und geringere Fersenbelastung bedeutet. Das funktioniert super und ich bekomme wieder mehr Selbstvertrauen, dass ich doch ein Stück laufen kann.

Mmmh nun wird es spannend: ich komme im nächsten Ort an und kann wählen, über welchen der Zäune ich Kletterer will. Es gibt keine Möglichkeit direkt auf die Straße zu kommen. Ich kann wählen, über das Firmengelände einer Spedition, einer Weinkellerei oder eines Bauernhofs zu laufen. Alle sind mit rechten hohen Zäunen zur Straße hin gesichert. Warum nicht zur Bergseite wundert mich. Ich entscheide mich für den Bauernhof, da dieser ein Tor hat, das rechts und links von einem Stück Mauerwerk eingefasst ist. Darüber klettert es sich besser als über einen Zaun. Die Mauer ist brusthoch. Mit dem Rucksack komme ich nicht hoch. Also ziehe ich den Rucksack aus und lasse ihn, so weit mir das möglich ist, sanft auf der anderen Seite herunterfallen. Jetzt muss ich hoch! Na geht doch – auch ohne Besuche in der Mucki-Bude. Kaum bin ich über die Mauer, kommen zwei Hunde bellend heran gerauscht. Haha – ihr habt keine Chance mehr: zu spät ihr Burschen! So jetzt schnell weiter, bevor mich jemand für einen Einbrecher hält.

In der nächsten Apotheke kaufe ich gemäß des Ratschlags meiner lieben Frau eine gummierte Ferseneinlage, zur Verbesserung der Dämpfung und Voltaren. Ich bin überrascht, dass ich mich verständlich machen kann und bekomme, wonach ich suche. Noch in der Apotheke mache ich die Einlage in den Schuh und in der nächsten Bar nehme ich, es soll ja helfen, gleich mal zwei Voltaren. Ich weiß nicht, ob die Maßnahmen helfen oder es Einbildung ist aber ich kann etwas besser gehen. Ich hinke zwar erheblich: mit dem linken Fuß trete auf dem Ballen auf und rolle nach hinten ab und mit dem rechten Fuß von der Ferse nach vorne.

In der Bar suche ich mir auf booking.com eine Unterkunft, die nicht mehr als 20 Kilometer entfernt ist. Das ist gar nicht so einfach. Es gibt zwischen Parma und Pontremoli kaum Hotels oder B&Bs. Ich finde etwas in Calestano, das, wie schon San Andrea Bagni, etwas von meinem eigentlichen Weg abliegt und buche es. So bin ich sicher, dass ich tatsächlich nach 20 Kilometer auch Schluss mache und so meinen Fuß schone.

Auch heute ist eine Straße der offizielle Weg und das belastet meine Füße enorm. Ständig muss man auf die vorbei fahrenden Autos achten. Die Straße ist zwar nicht stark befahren und ist mit max. 50 km/h beschildert. Das hält aber Italiener nicht davon ab, mit ihren Fiats 500 und KIA Mini-SUVs volle pulle die Straße entlang zu jagen. Fußgänger stören da nur und sollen gefälligst ausweichen. Die Ideallinie ist für sie und nur für sie.

So nun wird es schön heiß in den Bergen. Gut dass in jeder Siedlung es eine Kirche und eine Bar gibt. Ich muss meinen Flüssigkeitshaushalt mit einem schön kalten Getränk ausgleichen und ein Café kann auch nicht schaden. Um gut zu relaxen, ziehe ich noch die Schuhe aus und fange an, Zeitung zu lesen. Weit komme ich nicht. Ich schlafe am Tisch ein. Da sind sicher die Voltaren schuld dran. Als ich aufwache, ist die Bar voll. Der Wirt verwickelt mich in ein Gespräch über das Pilgern und jetzt wollen alle in der Bar mir gute Ratschläge geben. Hier spricht jeder mit jedem und Fremde werden natürlich in das Gespräch mit einbezogen. Verstehen kann ich wenig, da die Leute schnell und unartikuliert reden. Fehlende Zähne helfen einer guten Artikulation nicht. Das verstehen hier einige der älteren Herrschaften nicht. Das Gebiss bleibt zuhause!

Ich frage den Wirt, ob der Weg, den ich mir fern ab der Straße anhand meiner Wanderkarten-App überlegt habe, möglich ist zu gehen oder ob ich wieder irgendwo hinter Zäunen landen werde. Da bräuchte ich mir keine Gedanken machen, es sei halt etwas bergiger als auf der Straße sonst aber Hindernis frei. So wähle ich die Bergvariante, die sich hinter her auch noch als kürzer erweist.

Um mein Albergo zu reichen, muss ich noch über eine lange Brücke mit einem gigantischen Flussbett und einem Bächlein von einem Flusslauf. Die Häuser in Calestano sind ganz schön bauchig. Dann bin ich nach 20 Kilometern an meinem Ziel und fühle mich gut. Nach dem Duschen muss ich gleich mal die morgige Etappe planen. Ich hoffe meine Füße erholen sich mit dem leichten Rucksack und kurzen Etappen im Schleichmodus schnell, so dass ich in wenigen Tagen wieder kraftvoll marschieren kann.

Ach btw. Halbzeit! Die ersten 600 km sind geschafft.

Tag 20: 26.05.17

 

Als ich aus meinem Zimmer runter zur Rezeption komme, wartet die Signora des Hauses schon sehnsüchtig, dass jemand zum Frühstück kommt. Sie ist so freundlich, dass ich einen Cappuccino trinke und ein Brioche esse. Sie will mir unbedingt noch einen weiteren Café und ein Croissant schmackhaft machen. Aber ich will los. Auf dem Marktplatz nach etwa 200 m fällt mir ein, dass ich das Hotel noch gar nicht bezahlt habe. Meist wird das bei booking.com bei der Buchung direkt gemacht aber nicht in diesem Fall, was ich schnell noch checke. Also gehe ich wieder zurück. Die Signora grinst mich breit an und meint, sie hätte sich das schon über booking.com von mir bezahlen lassen.

Der Weg führt direkt nach Süden. Ich brauche keine drei Kilometer und ich habe das südliche Ende der Po Ebene und die hügeligen Ausläufer der Apennin erreicht. Das freut mich ungemein, da die Landschaft lieblicher und abwechslungsreicher wird. Hier macht Wandern doch einfach mehr Spaß. Nicht steil aber dennoch geht es bergauf und bergab durch Wiesen und Wälder. Auch wenn ich wieder viel auf asphaltierten Straßen und Wegen laufen muss, so gibt es doch auch viele Pfade und Wege, die einen natürlichen Untergrund haben.

Nach ungefähr 12 Kilometern komme ich in ein Dorf mit einer Kirche auf einem Hügel. Zur Kirche muss ich noch über eine weite Treppe hoch steigen. Das sieht einfach grandios aus. Dem Architekten muss man zu diesem wundervollen Entwurf gratulieren.

Direkt unterhalb der Kirche ist eine Bar, in der ich nun „richtig“ frühstücke. Der Wirt hat mich sofort als Pilger identifiziert und will sofort meinen Pilgerpass stempeln. Er bringt auch sein Gästebuch mit an meinen Tisch, in dem ich mich eintragen möge. Das tue ich natürlich gerne. Ich bin Pilger 276 in diesem Jahr. Aus den Eintragungen kann ich erkennen, dass nur ganz wenige von den 275 tatsächlich längere Strecken pilgern. Die meisten absolvieren eine Strecke, die man in einer Woche bewältigen kann. Ich finde vor allem Holländer und Deutsche, die auch bis Rom wollen und an unterschiedlichsten Orten gestartet sind.

Ich gebe mir ein wenig Mühe mit meinem Eintrag und bedanke mich für die Gastfreundschaft des Wirtes, was ihn ungemein freut. Da er nun auch meinen Namen kennt, stellt er mich allen anderen Gästen vor und übersetzt, dass ich von Lausanne bis Rom pilgern werde. Das ruft Erstaunen hervor und ich erhalte aufmunternde Worte und Klapse auf die Schultern. Statt eines kurzen Frühstücks verbringe ich so über eine Stunde in der Trattoria Lo Scoiattolo in Costa Pavesi.

Froh gelaunt und gestärkt wandere ich weiter. Ab Kilometer 15 geben mir mein Füsse zu verstehen, dass sie genug haben. Der rechte Fuß erinnert mich daran, dass ich eine fette Blase habe und droht damit sie zu vergrößern. Der linke Fuß sagt mir, dass er nicht mehr mit macht und fängt unter der Ferse an zu schmerzen, um so seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Ich sage den beiden, sie sollen sich nicht so anstellen. Es ist schön hier draußen und mir gefällt die Landschaft.

Das nehmen die beiden Füße nicht hin. Ab Kilometer 20 ist Schluss mit Lustig. Der linke Fuß streikt. Bei jedem Tritt sticht es mir von der Ferse bis hoch in den Rücken. Also gut ich ziehe meine Schuhe aus und laufe barfuß weiter. Allerdings nur bis zur nächsten Straße. Der Asphalt ist zu heiss. Gut dann nehme ich die Flip Flops. Das findet der rechte Fuß super, der Linke bekommt einen Anfall. Also ziehe ich mit Füßlingen die super leichten und sehr luftigen Sportschuhe an, damit die Füße nicht schwitzen müssen und verspreche, im nächsten Ort suchen wir uns eine Übernachtungsmöglichkeit. Das reicht dem linken Fuß nicht. Nach längerer Diskussion stimme ich zu, dass ich heute Abend wirklich alles, was nicht unbedingt gebraucht wird, aus dem Rucksack raus nehmen und im Hotel lassen werde. Ich mache mir schon mal ein paar Gedanken: die leichten Sportschuhe, das Handtuch, der Regenschutz für den Rucksack, die Regenjacke, das Hemd, ein Unterhemd und der Powerpack (heul). So komme ich auf unter 6 kg. Vorher hatte ich 7,8 kg und gestartet bin ich mit 9,1 kg. Das tut mir zwar unendlich weh – vor allem der Akku und die Regenjacke, denn so habe ich nichts warmes mehr dabei – aber Mist halt auch klar, andernfalls werde ich mit meinen Füßen nicht nach Rom kommen. Ich muss meinen beiden Füßen noch versprechen, es ein paar Tage etwas ruhiger angehen zu lassen.

Im nächsten Ort frage ich nach einem Hotel. Es gibt nur eins. Das hatte ich mir schon gedacht, denn auf booking.com gibt es keins und in Google Maps nur eins, dessen letzte Kritik vier Jahre alt ist. Das einzige Hotel am Platze ist allerdings ausgebucht. Ich hatte eher den Eindruck, dass die von ihrem Restaurant leben und keinen Bock auf einen Hotelgast hatten. Also checke ich erneut das Internet, denn hier kann mir keiner weiter helfen; alle wollen mich nach Parma schicken, nur da will ich nicht hin. Sieben Kilometer weiter mache ich ein Hotel in einer Terme ausfindig. Das Hotel sieht super aus, mit Schwimmbad und Anschluss an die Terme. Das buche ich schnell und mache mich humpelnd auf den Weg. Meine Füße sind sauer, dass sie nicht hier bleiben dürfen. Hilft aber nichts. Unterwegs komme ich an einer offenen Apotheke vorbei. Dort decke ich mich mit Compeed ein; kaufe eine antibiotische Salbe für die offene Blase und eine Art Franzbranntwein, um meine Füße etwas zu beruhigen. Mal sehen, ob das hilft.

Als ich im Hotel ankomme, muss ich feststellen, dass es renoviert wird und einer Baustelle gleicht.  Kein Garten, kein Pool, keine Terme: es ist schrecklich. Zuerst muss ich das Zimmer tauschen. Das erste Zimmer war selbst eine Baustelle. Das zweite ist ganz hübsch: mit Technik aus den 80ger und einer Farbgestaltung aus den 70gern.

In Fidenzia waren gestern Nachmittag die Geschäfte geschlossen, hier in San Andrea Bagni sind heute alle Geschäfte zu. Wobei mir der Ort den Eindruck vermittelt, hier ist nie etwas geöffnet, wo ich doch so dringend einen Haarschnitt bräuchte. Meine Mutter würde sagen: „Du siehst aus wie ein Beatle“. Tatsächlich habe ich das Gefühl, sollte ich noch eine Woche warten, dann ist mein Kopf breiter als meine Schultern.

So jetzt gehe ich rüber in die Pizzeria Piccadilly: was für ein Name für eine Pizzeria in Italien. Um acht sind nur zwei Tische belegt. Fünfzehn Minuten später ist die Pizzeria bis auf den letzten Tisch voll besetzt. Erstaunlicherweise haben die hier richtig tollen Wein zu extrem günstigen Preisen. Nachdem ich die letzte Woche alkoholfrei gelebt habe, bestelle ich mir eine Falsche Dolcetto D’Alba. Man könnte meinen, der Wein wird meine Füße beruhigen, das ist aber nicht wahr. Ich humpele wie ein alter Mann, der seinen Rollator vergessen hat, zurück zum Hotel. Morgen wird spannend – ich hoffe, meine Füße gutieren den leichteren Rucksack und meinen Willen, nur zwischen 20 und 25 Kilometer zu pilgern.

Tag 19: 25.05.17

 

Ich habe bereits gestern Abend ein Zimmer in Fidenzia, was gut 20 Kilometer weg ist, gebucht, da ich unbedingt mal wieder mehr Zeit zum Relaxen brauche: meine Akkus sind arg leer und meine Füße sind echt stinkig mit mir. Die Ferse meines linken Fußes jammert wieder und Rohr mit Streik und die Blase an der Innenseite der Ferse des rechten Fußes hat sich in ihrer Größe verdoppelt. Da ich mich kenne, würde ich das ignorieren und weiter laufen. Am Abend würde ich mich dann über mich ärgern. So kann das schon mal nicht passieren.

Heute morgen wird mir die Entscheidung ohne Caffe und Frühstück zu starten, leicht gemacht, da die Hotelbar erst um 07:30 Uhr öffnet und Frühstück serviert. So bin ich um kurz vor sieben fertig für die nächste Etappe.

Heute ist es etwas kühler und wolkiger. Die Sonne braucht etwa bis 11:00 Uhr, bis sie die Wolken vertrieben hat und ihr Grillprogramm einsetzt. Da bin ich aber schon vier Stunden unterwegs.

Ich komme gut voran, auch weil sich das Landschaftsbild ändert. Ich komme vorbei an Spargelfelder, natürlich mit grünem Spargel und an Wiesen, die gemäht sind und das Heu oft schon zu Rollen gebündelt ist. Schön ist der Getreideacker aus dem der Klatschmohn herausschaut.

Das einzige was den Tag trübt, ist der Gestank: Heute haben sich alle Bauern verabredet, Gülle auszufahren; ein Streichholz hätte genügt, um weite Teile der Po Ebene abzufackeln.

Wie ich heute lerne, hat der erste Pilger dieses Weges, Erzbischof Sigeric von Canterbury, auf seinem Weg das eine oder andere Kloster gegründet. An einem komme ich vorbei: Abazzia di Chiaravalle della Colomba. Mal wieder steht die Größe der Kirche in keinem Verhältnis zur Größe der Abtei und des angrenzenden Ortes. Sie ist innen auffallend geräumig. Der Eindruck wird dadurch verstärkt, dass nur wenige Bankreihen aufgestellt sind und man auf üppige Dekoration verzichtet hat.

Anders als in Spanien liegen entlang der Via Francigena selten Klöster. Heute ist das etwas anders. Sieben Kilometer nach der Abtei Chiaravalle komme ich an der nächsten vorbei: Abbazia di Castione Marchesi, das am Rande des gleichnamigen Dörfchens liegt.

An Seelsorge mangelt es hier nicht, denn in Fidenza, einer Stadt mit nicht mal 30.000 Einwohnern, gibt es einen Dom. Das Städtchen hat einen weitgehend  gut erhaltenen Stadtkern aus dem Mittelalter sowie antike Grundmauern, die teilweise freigelegt sind.

Trotz zwei längerer Bar-Pausen bin schon um 13:00 Uhr an meinem Zielort angekommen und checke in das Hotel „Zwei Schwerter“ ein. Die Dekoration ist rot-gold-grün. Ob der Name des Hotels und die Deko einen historischen Hintergrund haben?

Heute war ich faul und habe es nur auf gut 23 Kilometer gebracht. Bevor die Sonne mich gold-braun toasten konnte, war ich schon in Borgo San Donnino, wie Fidenza bis Kriegsende hieß.

Tag 18: 24.05.17

 

Wie jede Großstadt gilt auch für Piacenza: unabhängig von der Schönheit der Innenstadt, sind die meisten Außenbezirke und Stadtteile an den Ausfallstrassen häßlich. Ich pilgere nach Osten aus der Stadt auf der SS9 – eine stark befahrene Bundesstraße. Auf dem Seitenstreifen, selten gibt es einen Bürgersteig, wandere ich etwa 15 km. Spätestens nach 5 km erkenne ich am Luftdruck die Größe und Geschwindigkeit der an mir vorbei jagenden Fahrzeuge. Schnell fahrende LKWs erzeugen eine Windböe, gegen die ich regelrecht ankämpfen muss: erst werde ich weggedrückt und anschließend angezogen. Man könnte meinen ich torkele entlang der Straße.

Kilometerlang reit sich ein Gewerbegebiet ans andere. Sie konkurrieren um die hässlichsten Gebäude. Graue oft fensterlose Gebäude, bunte Trapezblech Fassaden in Firmenfarben, Betonskelette, unförmige Bürogebäude und und und

Ich frage mich, ob das sein muss. Könnte, ja sollte man nicht seitens der Stadtplanungsämter eingreifen, um diese Beleidigungen für das Auge zu unterbinden. Es ist doch möglich ansehnlichen Industrie- und Gewerbebau mit einer gewissen Abstimmung von Fassadenarten, Farbgestaltung und Formgebung zu realisieren. Es kann sich doch nicht alles den Kosten und Firmeneigenen CDs unterwerfen. Was in Italien noch verschlimmernd hinzukommt sind die unzähligen Werbetafeln rechts und links der Straßen. Die sind auch eine Art von Umweltverschmutzung.

Nach 15 km reicht es mir und ich weiche, auch wenn mich das am Ende ca. vier Kilometer kostet, in die Felder aus – zumal dies auch als Wegalternative ausgezeichnet ist. Nachteil: ich komme durch keine Ortschaft mehr, bis ich mein Tagesziel erreiche und somit gibt es weder einen Kaffee noch ein Panini. Wie der Zufall es will, habe ich zwei Äpfel dabei, die ich eigentlich für gestern Nachmittag gekauft hatte aber dann doch nicht gegessen hatte.

Ich marschiere nun im Zick Zack durch die Felder, immer den Grenzverläufen der bäuerlichen Betriebe folgend und auf der Suche nach Brücken über die Vielzahl von kleinen Flüssen, die sich wie Adern durch die Landschaft ziehen. Pilger werden hier nicht gut behandelt: schlechte Wege und selten eine Brücke auf dem direkten Weg. Zweimal muss ich durch eine Furt des jeweiligen Flüsschens. Beim ersten mal ist das Wasser nur knöcheltief. Trotzdem läuft mir das Wasser durch die Schuhe und meine Socken werden nass. Aufgrund meiner Blasen wechsele ich vorsichtshalber die Socken und lege die Schuhe zum Trocknen in die Sonne. In der Zwischenzeit esse ich einen der beiden Äpfel.

Beim zweiten mal ist das Wasser schon tiefer, tiefer als ich vermute. Da ich mir nicht noch ein paar nasse Socken holen will, ziehe ich Schuhe und Socken aus und wate ins Wasser. Schnell kehre ich um: ganz schön tief. Ich ziehe auch noch meine Hose aus, denn die muss mir nicht patsch nass an den Beinen kleben. Also wieder rein ins Wasser. An der tiefsten Stelle geht mir das Wasser bis an die Oberschenkel. Das hatte ich nicht erwartet. Durch die von der Sonne spiegelnde Oberfläche konnte ich das nicht richtig einschätzen.

Auf der anderen Seite angekommen, gehe ich erstmal barfuß weiter auch wenn die kleinen Steinchen ganz schön pieken. Nach kurzer Zeit sind meine Beine trocken und ich ziehe meine Hose wieder an – nicht dass ich für einen Exhibitionisten gehalten werde. Die Gefahr ist allerdings sehr gering. Schon seit geraumer Zeit ist mir keine Menschseele mehr begegnet. Barfuß laufe ich dann etwa einen Kilometer, bis mir die Füße durch die vielen Steinchen anfangen weh zu tun.

Jetzt habe ich noch sechs Kilometer vor mir und wieder setzt mir die Mittagssonne ganz ordentlich zu. Ich habe das Gefühl, sie saugt einem Vampir gleich jeden Tropfen Flüssigkeit aus mir heraus. Ich kämpfe mit einem weiteren Apfel und zwei Flaschen Wasser dagegen an und rette mich bis nach Fiorenzuola d’Arda, um zu verhindern, dass von mir nur noch ein Häuflein Asche übrig bleibt.

Fiorenzuola ist ein hübsches Städtchen mit einer weit verzweigten Fußgängerzone und einem attraktiven Marktplatz. In mitten der kleinen Gassen finde ich ein ebenso kleines und preiswertes Hotel mit einen Restaurant. Das ist prima, so muss ich zum Essen nicht noch durch die Stadt irren.

Heute komme ich auf gut 28 km. Mein Körper ist erschöpft als wären es 10 Kilometer mehr gewesen. Aus einem Supermarkt hole ich mir 3 Liter Wasser und 1,5 Liter Orangensaft. Für die Hälfte des Wassers und den gesamten Saft brauche ich kaum mehr als eine Stunde und nun warte ich, dass sich mein Körper schnell erholt.

Tag 17: 23.05.17

 

Heute werde ich bis nach Piacenza pilgern. Das müssten nach meiner Kalkulation knapp 35 km sein. Daher weckt mich meine Uhr bereits um 06:00 Uhr. Bis ich fertig bin und gefrühstückt habe, ist es doch wieder 07:30 Uhr.

Mein linker Fuß fühlt sich gut an. Also steht einem schönen Wandertag nichts mehr im Wege. Nach einer guten Stunde muss ich über einen Fluß, der wenig später in den Po mündet. Dass ich mich dem Po nähere kann man an den gigantischen Dämmen erkennen. Sie sind sicher 10 m hoch und gewaltig breit. Oben auf den Dämmen ist eine Straße angelegt, die meist asphaltiert sind. Sie sind geschlossen für den öffentlichen Verkehr, was aber viele nicht hindert, sie doch als Straße zu benutzen. Ich laufe von nun an bis zur Po Überquerung auf den Dämmen entlang.

Die Landschaft wird etwas Abwechslungsreicher: satte Roggenfelder, hier und da Baumbestände, die Schatten spenden und Zuflüsse zum Po.

Nach etwa 13 km mache ich eine Pause und lege mich in den Schatten. Schnell schlafe ich ein. Die Sonne weckt mich: der Schatten ist weg.

Weiter geht es bis Sant’Andrea, wo ich gem. der Wegbeschreibung mit einer Fähre über den Po auf die andere Seite übersetzen möchte. Daraus wird nichts. Die Fähre ist zwar ausgeschildert und ich finde auch den Anleger aber weder eine Fähre noch einen Fährmann. Auf einer Tafel am Anleger sind zwei Telefonnummern angegeben. Beide rufe ich ergebnislos an. Sie wissen nichts von einer Fähre. Der Po schlängelt sich in seiner gesamten Breite durch die Landschaft.

So stapfe ich wieder zum Damm hoch. Dort treffe ich einen jungen Mann auf einem Moped. Er kann mir auch nicht helfen. Er weiß nichts von einer Fähre. Ich müsse auf dieser Seite des Pos bis nach Piacenza weiter auf dem Damm wandern und dort die Brücke über den Po nehmen, das sei die einzige Möglichkeit weit und breit über diesen gewaltigen Strom. Er bietet mir an, mich auf seinem Moped nach Piacenza zu fahren, das lehne ich dankend ab, obwohl ich zugeben muss, dass mich das ganz ordentlich frustet. Denn gerade hier macht der Po einen schönen großen Bogen, was zusätzliche 5 km und eine Stunde mehr Hitze bedeutet.

Nach einer Weile habe ich das Gefühl mein Strumpf am rechten Fuß scheuert an der Innenseite der Ferse. Vorsichtshalber schaue ich nach, was die Ursache sein könnte, ich kann nichts entdecken und schmiere den Bereich großzügig mit Hirschtalg ein. Was nichts nutzt, wie ich später nach dem Duschen in Piacenza feststellen muss. Ich habe mir eine riesige Blase gelaufen. Alle meine Pflaster sind zu klein. Da muss ich mir für morgen noch etwas überlegen.

Am frühen Nachmittag komme ich durch eine winzige Ortschaft mit einer Kirche kathedralenhafter Ausmaße. Ich frage mich, wo für braucht man hier so viel Platz in der Kirche. Es sind sogar im hinteren Bereich zusätzliche Stühle neben den Kirchenbänken, die schon selbst reichlich Platz bieten, aufgestellt? Die Kirche ist innen eher schlicht und wunderbar hell. Sie erdrückt einen nicht, macht einen nicht klein durch ihre Düsterheit, wie ich das bei uns meist empfinde, sondern sie wirkt freundlich, aufbauend. Ich verweile für einen Moment, da ich mich in diesen Mauern ernsthaft wohl fühle.

Der Ort hat auch noch eine Bar, in der ich meinen Hunger mit einem Panino und meinen Durst mit eiskalter Fanta stille. Dazu übt die Tochter des Hauses Gitarre, was mehr unterhaltend ist durch ihre Ungeschicklichkeit als ihr Können.

Nun muss ich noch 17 Kilometer pilgern, was mir wie eine unendlich hohe Hürde vorkommt. Nach über 7 Stunden und mehr als 38 km habe ich es geschafft. Ich bin in Piacenza.

Auch wenn ich noch einen kleinen Spaziergang durch die Stadt mache, sehe ich nicht viel von ihr, zu sehr ist mein Körper erschöpft. Sie hat einen tollen Hauptplatz, den ich leider nicht in der Lage bin, mit meinem IPhone auf einem Foto einzufangen, wohl aber die Kirche. Auch sie ist Licht durchflutet, was meine Stimmung sprunghaft anhebt.

Zurück in meinem B&B fange ich an, meinen Bericht von heute zu verfassen. Weit komme ich nicht; ich schlafe auf dem Sofa tief und fest ein. Um acht, nach fast zwei Stunden, wache ich hungrig auf. Der Hunger treibt mich raus, obwohl ich lieber einfach weiter schlafen möchte. Ich spüre, dass mein Körper 3,7 Liter Flüssigkeit verloren hat. Ich kann gar nicht so viel trinken, um das Flüssigkeitsdefizit schnell genug auszugleichen.

Mir ist heute allerhand durch den Kopf gegangen. Was, das erfahrt Ihr frühestens Morgen. Heute bin ich nicht mehr in der Lage, noch etwas verständlich aufzuschreiben. Entweder bin ich zu erschöpft oder die Gedanken sind noch nicht reif genug.

Tag 16: 22.05.17

 

Hallo hier bin ich wieder von der Via Francigena!

Gestern Nachmittag bin ich von Frankfurt nach Mailand geflogen und bin mit S-Bahn und Zug weiter nach Pavia, wo ich meinen Weg am Freitag unterbrochen hatte. Alles hat prima geklappt. Ich war sogar in der Lage, mir problemfrei ein Bahnticket zu besorgen.

In dem Agriturismo, wo wir am Donnerstag übernachtet und ich meinen Rucksack deponiert hatte, wurde ich herzlich empfangen. Obwohl aufgrund von mehreren Taufen an diesem Sonntag die Küche völlig erschöpft war, bekam ich noch ein zweigängiges Menü. Der Koch musste mir noch in Englisch/Italienisch von seinem Tag berichten und setzte sich zu mir an den Tisch. Also wurde es doch etwas später und einen halben Liter Roten habe ich so auch noch getrunken.

Wie immer hatte ich mein Zimmer nicht abgeschlossen. Ich war der einzige Hotelgast, also war ich ganz allein. Dachte ich: kurz nachdem ich im Bett lag und noch mein vor mir liegendes Tagespensum studierte, wurde es draußen etwas lauter. Kurze Zeit später wurde meine Zimmertür polternd aufgerissen und ein knutschendes Pärchen, sie bereits ohne Top, stürmte herein. Als die beiden mich sahen, ein Schreckensschrei, Entschuldigungen von allen Seiten und draußen waren sie wieder.

Also lasse ich es heute etwas ruhiger angehen und frühstücke erst um viertel vor acht. Vorher wäre eh sicher keiner wach gewesen nach unseren Erfahrungen von Freitag Morgen. Das späte Aufstehen rächt sich später. Ab etwa halb elf grillt mich die Sonne und ich brauche bis drei, um aus dem Ofen herauszukommen.

Im wesentlichen pilgere ich heute auf asphaltierten Straßen. Am Anfang, um auf den ausgeschilderten Weg zurückzukehren (das Agriturismo liegt etwa fünf Kilomter ab von dem offiziellen Weg), muss ich an einer stark befahrenen Straße entlang marschieren. Als ich einen Weg, der parallel zur Straße verläuft, erkenne, nehme ich diesen. Das war keine gute Idee, denn der macht auf einmal einen rechts Knick und führt in eine völlig andere Richtung. Also gehe ich in die richtige Richtung am Rand eines Ackers und stehe eine Weile später vor einer Bahnlinie. Die Straße unterquert diese und liegt fast zehn Meter tiefer. Also muss ich runter in einen Graben, raus aus dem Graben, um an die Bahnlinie zu kommen. Im Graben hole ich mir alle möglichen Spreißel in meine Socken, was mich fortan piesackt.

Nach der Überquerung der Schienen ist Schluss. Dornenhecke, noch ein Graben, steile Böschung, weiter Dornenhecken. Es gibt kein Durchkommen. Zurück will ich auch nicht. Denn der Weg scheint mir nur geringfügig besser. Also bahne ich mir einen Weg durch die Hecke und scheuche prompt einen Schwarm Hornissen auf. Autsch – hat doch tatsächlich mich ein Vieh in meinen Unterarm gestochen. Aber ich bin durch!

So nun muss ich erstmal Schadensaufnahme machen. Aufgekratzte Arme, demolierter Daumennagel, anschwellender Insektenstich, piekende Socken und schmutzige neue Schuhe.

Ach ja, das habe ich ganz vergessen, zu erzählen. Ich habe mir so richtig schöne neue Sportschuhe in Heidelberg gekauft mit besonders guter Dämpfung für meine schmerzende Ferse. Die Schuhe aus Aosta habe ich im Agriturismo zwischengelagert. Meinen Rucksack habe ich von warmer Kleidung und Schlafsack befreit. Nun ist er schön leicht und meinen Füßen sollte es so schnell wieder besser gehen.

Vom Weg gibt es nicht viel zu erzählen. An vielen Kirchen in mehr oder weniger verlassenen Dörfern komme ich vorbei. Die Reisfelder werden durch Getreidefelder ersetzt und es gibt öfter mal Bäume, die sich fast zu Wäldern zusammenfügen.

Kurz vor meinem Ziel muss ich noch einen schmalen Pfad nehmen, den ich fast übersehen hätte und dann durch kniehohes Gras laufen. Dann hab ich es geschafft und bin in Miradolo Terme. Von hier sollte ich morgen nach Piacenza kommen.

Ein kleines B&B habe ich gefunden, das von Mutter und Tochter geführt wird. Da Mama nur Italienisch spricht, dolmetscht die Tochter mit Ihrem geringen Englisch Wortschatz – mein Italienisch ist umfangreicher und das ist ziemlich dürftig. Aber wir verstehen uns prima. Ich bekomme eine komplette Wohnung mit je einer Terrasse vor und hinter dem Haus. Hier kann man es aushalten. So beschließe ich, nach meiner Ortsbesichtigung Wurst, Käse und Brot im Supermarkt zu kaufen und mein Abendessen auf einer der Terrassen einzunehmen.

Trotz der Hindernisse und der Sonne habe ich gut 28 km in knapp 6 Stunden geschafft.

Tag 15: 18.05.17

 

Meine Füße schmerzen heute schon ab der ersten Minute. Der Rucksack ist definitiv zu schwer und muss heute Abend erleichtert werden. Das steht fest! Ich bin mir allerdings nicht so sicher, ob die Füße höhere Schmerzen signalisieren, weil ich seit gestern darüber nachdenke, überflüssige Sachen aus dem Rucksack zu entfernen oder ob die Schmerzen tatsächlich zugenommen haben. Ist auch egal, jetzt wird das Gewicht radikal reduziert.

Schon nach etwa einer Stunde Marsch erreiche ich das Ufer des gemächlich durch die Auen fließenden Ticino, an dem ich bis nach Pavia entlang laufe. Es ist sehr angenehm, am Ufer des Ticino zu wandern. Die Bäume und Büsche, die hier überall wachsen, spenden viel Schatten. Somit ist es nicht so heiss auch ist der Untergrund federnd weich, was für meine Füße angenehmer ist als die asphaltierten Wirtschaftswege und weniger Kraft raubend als die Wiesenwege.

Um halb zehn komme ich an der Bar vorbei, die Giovanna mir gestern so sehr ans Herz gelegt hat. Tatsächlich ist es eine Osteria, die um diese Zeit noch geschlossen hat. Hier wollte ich mein Frühstück einnehmen und weit und breit gibt es keinen Ort, der eine Bar hat. Pause möchte ich auf jeden Fall machen, auch wenn das bedeutet, länger auf ein Panino warten zu müssen. So lege ich mich unter einen Baum in den Schatten direkt am Weg. Kopf auf den Rucksack, Po auf die Schuhe, die ich natürlich ausgezogen habe, Beine lang ausgestreckt über den Weg, und schon schlummere ich ein. Nach einer guten Stunde wache ich auf, weil jemand über mich steigt und schaue in das schmunzelnde Gesicht eines schwarzen Wanderers.

So gestärkt aber ganz schön hungrig erreiche ich Pavia. Zuerst muss ich noch auf der Ponte Vecchio über den Ticino.

So nun schnell in die Innenstadt ich brauche dringend ein Panino mit Cappuccino. Eine entsprechende Bar ist vor dem Dom schnell gefunden. Während ich das Panino esse und die Kathedrale bewundere, kommen zwei Jungs so zwischen 16 und 18 aus der Bar und ziehen sich auf offener Straße jeder einen Joint rein. Danach gehen sie wieder in die Bar. Was sind denn das für Sitten?

Um mich moralisch wieder aufzubauen, gehe ich in die Kathedrale und besichtige dieses unförmige dunkele Monster. Innen wirkt sie völlig anders als außen: hell, freundlichen, leicht, … mir fällt es schwer die Gegensätzlichkeit von innen und außen zu beschreiben. Nun gut, wer mehr wissen will, muss halt selbst einmal hier her kommen.

Für heute Nacht habe ich Zimmer in einem Agriturismo etwas außerhalb der Stadt gebucht. Andrea und eine Freundin machen hier einen Stop. Sie sind auf dem Rückweg von der Côte Azure, wo sie eine Woche Ferien gemacht haben. Wir fahren zusammen nach Heidelberg, wo ich spontan einen geschäftlichen Termin wahrnehmen werde. Am Sonntag fliege ich dann wieder hier her zurück und am Montag pilgere ich weiter.

Daher werdet ihr die nächsten drei Tage auch nichts von mir hören – sorry! Montag geht es dann wie gewohnt weiter. Also bis dann!

Ach die technischen Daten von heute fehlen noch: 23 km mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 5km/h.

Tag 14: 17.05.17

 

Ich hatte gegen meine Gewohnheit bereits gestern mir ein B&B – die Villa Cantoni in Gropello Cairoli – gebucht, weil es von den Bildern und der Beschreibung mir sehr gut gefallen hat. Damit war mein Ziel für heute klar vorgegeben. Die Besitzerin hat mir noch einige Tipps für den Weg per Email zukommen lassen. Es dürften nicht mehr als 25 km werden. Also ein kürzer Trip, was meinen Füßen sicher gut tut, denn sie schmerzen schon arg aufgrund des Rucksackgewichtes.

Schon gestern, heute noch mehr, stellt sich mir die Frage, brauche ich tatsächlich noch die warmen Kleidungsstücke und den Schlafsack? Hostels wie auf dem Jakobsweg mit Shared Rooms habe ich bisher auf der Via Francigena nur zweimal angeboten bekommen aber dankend abgelehnt, da bisher auch immer ein Einzelzimmer zu haben war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das ändern wird. Der yschlafsack ist definitiv nicht wichtig. Der Gedanke muss noch etwas reifen oder bin ich mir schon längst sicher, dass ich bei passender Gelegenheit meinen Rucksack deutlicher leichter machen werde?

Ohne Frühstück, die Chinesen schlafen noch um 07:30 Uhr, pilgere ich los. Nach 15 km und etwas mehr als zweieinhalb Stunden komme ich nach Tormello. Ein wirklich hübscher lebendiger Ort. Ich stürme in die erste Bar, da mir der Magen in den Kniekehlen hängt. Na wer sitzt denn da: das Pärchen aus Holland. Ich setze mich zu Ihnen und bestelle ein Panini mit einem Cappuccino. Das tut gut!

Während ich mein Panini mampfe und ich mich mit den beiden unterhalte, kommt auf einem rot – weiß – grünen Fahrrad mit einer Aufschrift Via Francigena ein älterer Herr angeradelt und setzt sich zu uns. Er fragt, ob wir Pilger sind und bietet uns an, wenn wir ihm unsere Pilgerpässe geben, diese vom Pfarrer stempeln zu lassen. Das machen wir natürlich. Nach zehn Minuten ist er wieder da und übergibt uns nicht nur die gestempelten Pässe sondern gleich noch eine Urkunde und einen Button dazu. Zwar verstehen weder die Holländer noch ich hinreichend Italienisch, um ein Gespräch zu führen, das stört den Herren aber nicht, auf uns wasserfallartig einzureden. Er unterhält sich prächtig mit uns und kann sicher sein, er wird von uns nicht unterbrochen. Das geht etwa eine Viertelstunde bis er auch die anderen Einheimischen an den Nachbartischen in unser oder besser sein Gespräch mit einbezieht. Das eröffnet die Möglichkeit, dass wir, ich meine die beiden Holländer und ich, uns weiter unterhalten. Ihr geht es heut nicht so gut. Gestern war es zu anstrengend für sie. Da ihr Gesicht von der Sonne verbrannt ist, glaube ich eher, sie hat zu viel Sonne abbekommen. Auf jeden Fall sind sie heute Morgen von Mortara nach Tormello mit dem Zug gefahren und wollen ebenfalls nach Gropello. Das reiche Ihnen für heute und brechen dann auch auf.

Ich trinke erst noch einen zweiten Cappuccino, denn ich habe viel Zeit. Giovanna, die Besitzerin der Villa Cantoni, kann mich erst um 14:00 Uhr empfangen und es sind nach meiner Schätzung nur noch 10 km. Der nette Herr mit seinem tollen Fahrrad gibt mir hinsichtlich des Weges noch einige Ratschläge. Ich darf auf keinen Fall den Via Francigena Schildern folgen.

Da ich nun von zwei unabhängigen Personen die selben Hinweise erhalten habe, halte ich mich auch daran. Das ist ein großer großer Fehler. Ich laufe nicht nur einen Umweg von über 5 km, sondern noch viel schlimmer es geht im Zick Zack entlang von Feldern ohne Wege durch hohes Gras, was meine Laufgeschwindigkeit extrem negativ beeinflusst und Kraft kostet, viel Kraft. Zwischendurch komme ich an einem Schweinezuchtbetrieb vorbei, der unerträglich stinkt. Ich muss mir die Nase zu halten. Es ist unerträglich. Dann stehe ich von Zäunen umgeben vor den Wohngebäuden und Stallungen dieses Stnkebetriebes und weiß nicht weiter. Aus dem Haus kommt träge ein Mann und fragt, ob ich zur Madonna Delle Bozzole will. Ja das will ich. Ich erhalte eine unendliche lange Wegbeschreibung und der Bauer führt mich durch eine schmale Tür im Zaun von seinem Hof auf einen Weg. Bin ich froh als ich aus der Riech-Reichweite dieses Hofes komme.

Mit Hilfe der Wegbeschreibung des Bauern und von Google Maps komme ich zur Sakristei Madonna Delle Bozzole. Jetzt muss ich nur noch knapp acht Kilometer an einem Kanal entlang pilgern und komme so nach Gropello Cairoli.
In der Zwischenzeit habe ich Giovanna eine Message geschrieben, dass ich aufgrund der Umwege erst um 14:30 Uhr eintreffe. Das führt später dazu, dass mir erklärt, wo ich falsch gelaufen bin und was ich hätte anders machen sollen. Das hilft mir leider auch nicht mehr. Hätte sie mal besser vorher richtig beschreiben sollen.

Ich kann ihr aber nicht böse sein, da sie charmant mich um den Finger wickelt. Ich bekomme klare Anweisung, für heute Abend, wo ich zu essen habe, Morgen auf dem Weg nach Pavia mein Frühstück einnehmen muss und wo es in Pavia zu übernachten gilt. Sie wird gleich alles für mich reservieren. Ist sie so hilfsbereit oder ist das Geschäftstüchtigkeit? Jetzt muss ich aber schnell eine Vollbremsung einlegen.

Auf jeden Fall hat sie ein tolles Haus mit einigen Zimmern verteilt über drei Etagen. Ich bekomme, wie sie betont das größte Zimmer, das sei doch am komfortabelsten für mich, auf der obersten Etage mit schönem Blick. Das Zimmer ist tatsächlich großzügig und für den Preis bestens ausgestattet. Vor allem funktioniert das Bad ohne jegliche Einschränkungen. Ich bin der einzige Gast heute und habe das komplette Haus für mich.

Das beste ist aber der Garten und die Terrasse. Von einem Garten zu sprechen ist eine Untertreibung, der hat Park ähnliche Ausmaße und ist extrem schön mit alten hohen Bäumen, die reichlich Schatten spenden, angelegt. Hier halte ich mich nach dem Duschen auf und genieße das Umfeld.

Natürlich schaue ich mir, wie von Giovanna angeordnet auch den Ort an. Es ist ein Straßendorf, das sich dadurch auszeichnet, dass an beiden Enden mehr oder weniger mitten auf der Straße je eine Kirche steht.

Aus 25 km sind heute dann doch wieder fast 32 km geworden. Langsam war ich durch die schlechten Wege. Ich habe im Schnitt fasst 12:30 Minuten pro Kilometer gebraucht und Hurra, ich habe mehr als ein Drittel des Weges bewältigt!

Tag 13: 16.05.17

 

Um der Hitze ein wenig zu entgehen, starte ich heute schon um ca. 07:30 Uhr. Als ich in Vercelli aufbreche, muss sich die Sonne erst noch durch die Wolken arbeiten. Das hat sie um 10:00 Uhr geschafft und von da an geht es wieder in den Backenofen der Po-Ebene. Da bin ich aber schon am ersten Etappenziel in Robbio. Ich bin ganz stolz auf mich, denn ich habe eine Abkürzung von fast 4 km genommen und war recht fix unterwegs.

(Wie in Kindertagen)

In Robbio ist Markttag und die Bars sind offen, so dass ich erstmal einen Boxenstop einlege. Ich entscheide mich für ein Brioche und einen Café (die einzigen Optionen).

So gestärkt gebe ich mich des zweiten Teils meines heutigen Programms hin: nochmal 15 km nach Mortara.
Kein Schatten hilft mir davor auf niedriger Stufe gar gekocht zu werden. Als ich an einem Hof vorbei komme, der einige Bäume um sein Gehöft wie auch auf den Zuwegungen angelegt hat, will ich im Schatten der Bäume ein Päuschen einlegen. Ich muss mal und will was trinken. Aber wen sehe ich da im Schatten liegen? Meine beiden Holländer. Sie erzählen, dass sie bereits um 06:00 Uhr aufgebrochen sind, um es auch bis nach Mortara zu schaffen. Jetzt müssten sie aber etwas schlafen, um fit für die restlichen Kilometer zu sein.

Gut dann sause ich halt weiter. Ich kann ihnen ja schlecht vor die Füße pinkeln. Kurz darauf komme ich mitten im Nirgendwo an einen hübsch angelegten Friedhof vorbei. Dort verweile ich für einen Moment.

Kurze Zeit später erreiche ich einen kleinen Ort, der fast so tot wirkt wie der Friedhof. Der Ort ist der erste, der tatsächlich sich outet an der Via Francigena zu liegen. Das ist aber auch schon das einzig erwähnenswerte an diesem Ort.

Von da an zieht sich der Weg und scheint länger und länger zu werden. Die brütende Hitze hat ihren Teil daran aber auch der Wiesenweg, der krumm und buckelig ist und natürlich auch nicht gemäht. Das kostet Extrakraft.

Als ich am nächsten Bauernhof vorbei komme sitzen drei Italienische Pillger im Schatten, den der riesige und stinkende Kuhstall wirft. Wie kann man sich denn da hin setzen.? Freundlich wechsele ich in Englisch, Deutsch und mit meinen wenigen italienisch Kenntnissen einige Wort. Die drei – ein Mann und zwei Frauen – sind auf „großer“ Pilgerfahrt von Ivrea nach Pavia. Alle drei und auch das Paar aus Friesland übernachten wie ich beim Chinesen. Wer hätte das gedacht. In Mortara gibt es zwei Möglichkeiten für die Übernachtung, beide direkt am Bahnhof, beide sehen völlig herunter gekommen aus und ein Haus hat schlechte Bewertungen und das andere sehr schlechte. Ich – wie die anderen auch, völlig unabhängig von einander – entscheide mich für das Hotel mit der schlechten Bewertung. Ich werde von Chinesen unterschiedlichen Alters in Englisch empfangen. Kassiert wird gleich und man bekommt den Hinweis, dass man zum Abendessen erwartet, das Chinesische Restaurant, das selbstverständlich von ihnen betrieben wird, zu wählen. Ich werde nach oben geschickt und darf mir unter den offen stehenden Zimmern eins auswählen. Trotz ihrer Ungeschicktheit im Umgang mit Gästen sind die extrem freundlich: Chinesen!

Nach dem Duschen besichtige ich wie immer den Ort. Ich habe keine großen Erwartungen, brauche aber Cash und Zahnpasta, also muss ich raus. Da der Ort alles andere als schön ist, gibt es Bilder aus der Kirche, die wiederum umwerfend schön ist.

Ich wollte mir für heute ein Thema vornehmen zu durchdenken. Ich muss leider sagen, dass dies nicht so richtig funktioniert hat. Aber so ist das manchmal: erst war mein Gehirn mit etwas anderem beschäftigt und später hat der Hitzeschutz es ausgeschaltet. Ihr werdet Euch fragen, womit war ich gedanklich beschäftigt? Gut so! Der Hitzeschutz hat scheinbar seine Tücken und löscht nicht richtig abgespeicherte Gedanken. Aber so langsam kommt es wieder. Wen es interessiert, am Schluss lasse ich mich darüber aus.

So nun aber noch die technischen Daten des Tages: 31km (addiert sich auf zu 390km fast ein Drittel ist geschafft), 1.600 kKalorien, knapp 6 Stunden bei einem Flüssigkeitsverlust von über 3l.

So nun für die Interessierten: Ich habe mich mit meiner Vergangenheit besser Jugendzeit beschäftigt. Genauer, was hat mich bewogen, ins Consulting zu gehen und mich selbständig zu machen. Anlass war eine E-Mail vom Rotary Distrikt, in der sie mitteilen, dass sie beabsichtigen, morgen den Login auf ihre Systeme zu ändern. Mich ärgert, dass man mal wieder top down ohne hinreichenden Vorlauf und über die Köpfe aller hinweg eine solche Entscheidung getroffen hat. Das hat mich an meine Bundeswehrzeit erinnert und wie prägend die zwei Jahre waren, die ich bei dieser Organisation beschäftigt war. Hier wurden Befehle von völlig unqualifizierten Menschen erteilt. Führung hieß Angst und Druck erzeugen, was bei mir nicht so richtig funktioniert hat und ich deshalb immer angeeckt bin. Denn mit was wurde Angst erzeugt: Körperliche Ertüchtigung – haha, als 19/20 Jähriger ist es doch keine Strafe sich sportlich zu betätigen; mit der Androhung von Wochenenddiensten – haha hätten die unqualifizierten Führungskräfte auch bleiben müssen; mit psychischen Druck also Leute gegen einander aufwiegeln. Interessant ist, wie viele junge Menschen dem auf den Leim gegangen sind, trotz hervorragender Schulbildung. Neben der miesen Führung hatte die Bundeswehr ein zweites grundlegendes Problem: keine Ergebnisse erzielen zu können. Nichts ist demotivierender als Langeweile, die sich daraus ergibt, dass es nichts zu tun gibt ausser ersichtlich sinnlosen Aktivismus.

Dieser Umstand hat dazu geführt, dass mir drei Dinge sehr wichtig wurden: (1) ich werde nie mehr in einer Organisation arbeiten, die Angst und Druck bei ihren Mitarbeitern erzeugt; (2) ich möchte weitgehend selbst bestimmen, was und wie ich etwas bearbeite; (3) das was ich mache, muss ein klares Ziel haben und sichtbare Ergebnisse erzeugen, auf die ich stolz sein kann.

Basierend auf meiner humanistischen Schulbildung und dem Umstand geschuldet, dass in unserer Familie alles ausdiskutiert wurde, obwohl unsere Mutter uns Kindern vergeblich versucht hat beizubringen: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, haben sich vier Grundsätze für meine beruflichen Aktivitäten herausgebildet. (1) Performance: wer nicht liefert, wird gem. des darwinistischen Grundsatzes vom Markt aussortiert oder anders formuliert, es wird hart gearbeitet, um beste Ergebnisse zu erzielen (2) Fairness: dies gilt gleichermaßen im Umgang mit Mitarbeitern, mit Kunden und sonstigen Steakholders (3) Loyalität ist Teil meines unumstößlichen Wertekanons (4) Spaß: das was ich mache, muss mir Freude bereiten, denn dann kann ich Ziele erreichen, die alles von mir abverlangen.

So das war es für heute, jetzt muss ich erstmal Chinesisch essen gehen.

Tag 12: 15.05.17

 

Heute ist es heiß. Die Sonne scheint und es gibt über mir kein Wölkchen. Im Schatten beträgt die Höchsttemperatur 27 Grad Celsius, Schatten sehe ich so gut wie keinen und ich möchte auch nicht über die Temperaturen in der Sonne spekulieren. Ich wiederhole mich, es ist heute heiß, sehr heiß!

Nun gut, was gibt es zu erzählen? Ich laufe vom Golfplatz zu meiner üblichen Uhrzeit zwischen 08:30 und 09:00 Uhr los. Ich durchwandere vor allem Getreidefelder. Wein wird jetzt nicht mehr angebaut. Nach etwa sieben Kilometer erreiche ich Santhia und von jetzt an bin ich in der Po Ebene. Es ist flach, ganz flach: kein Hügel. Muss ich einen Anstieg überwinden, dann handelt es sich um eine Brücke über eine Straße, Bahntrasse oder über einen der vielen Bewässerungskanäle. Diese sind mal größer und mal kleiner. Sie führen entlang jeden Feldes. Angebaut wird hier nur noch Reis. Je nach Wachstum des Reises sind die Felder mal komplett geflutet oder das Wasser läuft zurück in einen Kanal bzw. ist am abtrocknen. Das wird über Schieber in den Kanälen reguliert.

Alle drei Kilometer kommt man zur Abwechslung an einem der gigantischen Bauernhöfe vorbei. Sonst gibt es nichts: keinen Ort, keine Bar, keinen Brunnen –> pure Langweile!
Es ist schwer mich zu motivieren, da nach einer Weile die Landschaft sich immer wieder gleicht. Die Sonne und das fehlende Trinkwasser leisten ebenfalls ihren Beitrag. Das Schlimme: ich weiß, dass sich das die nächsten knapp 300 km kaum ändern wird.

„Meine“ beiden Holländer, die ich heute Abend zufällig in Vercelli wieder treffe, haben schon heute, weil die Eintönigkeit der Landschaft Ihnen ebenfalls aufs Gemüt geschlagen ist, den Zug genommen. Soweit ist es bei mir noch nicht. Ich habe Musik gehört, die mich angetrieben hat. Für Morgen muss ich mir noch etwas überlegen. Ich denke, ich fange wieder wie in Spanien an, mir Themen zu setzen, die ich den Tag über durchdenken werde.

In Vercelli finde ich mitten in der Stadt in einer engen Gasse ein B&B mit Apartments. Der Schlüssel ist in einem Kasten neben der Tür: dann braucht man eigentlich nicht abschließen. In meinem Apartment angekommen, höre ich ein Tropfgeräusch. Gleich schaue ich nach, welcher der Wasserhähne tropft. Denkste, es tropft sowohl im Schlafzimmer als auch im Bad von der Decke. Na prima! Ich rufe die Vermieterin an, die nach zehn Minuten angerauscht kommt und nicht glauben kann, was ich ihr am Telefon gesagt habe. Als sie das Malheur sieht, fängt sie, typisch Italienisch an zu schimpfen, jammern, fluchen und und und.

Im Nachbarhaus hat sie ein weiteres Apartment, das sie mir jetzt gibt. Sie muss zunächst erst einmal weiter ihre Emotionen los werden. Was bedeutet, ich werde sie nicht los. Sie setzt sich erst mal im neuen Apartment, schimpft und flucht weiter. Heult ein bisschen und muss sich erstmal in meinen Armen trösten lassen. Jetzt reicht’s mir und ich schiebe sie mit dem Hinweis, ich bin völlig fertig, stinke und muss jetzt unbedingt duschen, raus. Keine Stunde später ist sie wieder da und ich bekomme einen Zwischenbericht, was passiert ist. Nur verstehe ich kein Wort, nicke eifrig und muss wieder klar machen, dass ich andere Pläne habe, als mich ihrem Wasserschaden anzunehmen.

Ich schaue mir erstmal für die nächsten beiden Stunden Vercelli an, das in der Römerzeit und im Mittelalter große Bedeutung hatte. Entsprechend gibt es sehr viele herrschaftliche Gebäude, tolle Plätze, viele große Kirchen und einen Dom.

Auf dem Rückweg hole ich eine Pizza, die ich genüßlich in meinem Apartment vertilge. Während ich so am Essen bin, klopft es und meine Vermieterin steht schon wieder mit einem nicht enden wollenden Wortschwall an der Tür. Ich versuche zu fragen, was denn los ist und ich werde mit nicht enden wollenden Wortbandwürmern überhäuft. Ich verstehe natürlich immer noch nichts von dem, was sie sagt. Das scheint auch nicht wichtig zu sein. Nach dem die ersten Wortwellen über mich hinweg geschwappt sind, will sie mir die Kaffeemaschine und die Mikrowelle erklären und zeigt mir, was sie für das Frühstück alles in den Kühlschrank gelegt hat. Ich höre nicht mehr zu und überlege, wie ich ohne allzu unhöflich zu wirken, klar machen kann, dass es mir nun einfach reicht und ich meine Pizza fertig essen möchte. Manchmal ist es ganz einfach: ich nehme mir ein Stück Pizza und mampfe wieder los. Das versteht die Gute. Sie entschuldigt sich für die Störung und schwirrt ab.

Heute habe ich es auf gut 35 km gebracht und hatte den bisher höchsten Flüssigkeitsverlust von über 3,2 l. Kein Wunder, dass ich so durstig war, da ich doch nur etwas mehr als einen Liter Wasser bei mir hatte.

Tag 11: 14.05.17

 

Was für ein grandioser Tag. Ich habe prima in meinem schönen Zimmer des B&B, das ich mir gestern ausgesucht hatte und von zwei jungen Damen ausgesprochen geschmackvoll eingerichtet wurde, geschlafen. Ich werde herzlich begrüßt von einem der Mädels und bekomme ein tolles Frühstück u. a. mit Joghurt und frischem Obst. Da auch noch die Sonne scheint, kann es nur super werden.
Dann muss ich das schöne Ivrea verlassen und gehe zunächst Richtung Lago di Viverone.

Ich wandere durch eine angenehme Hügellandschaft mit Weizenfeldern, Weinbergen und Wälder. Eine tolle Landschaft. Meine positiven Vorurteile über das Piemont werden vollkommen erfüllt. Nicht nur aufgrund der Landschaft sondern auch an Essen und Trinken, wenn ich mich an gestern Abend zurück erinnere. Mir wurde eine Osteria empfohlen, in der ich als Hauptspeise Thunfisch in Lardo-Ummantelung gegessen und dazu einen Roero Arneis getrunken habe. Ich bin glücklich!

Nach 15km lege ich in einer Bar in Piverone hoch auf einem der Hügel eine Pause ein. Während ich mich meines Rucksacks entledige, werde ich auch schon lautstark von dem Holländischen Pärchen aus Port-Saint-Martin begrüßt. Ich habe die beiden gegen die Sonne gar nicht gesehen. Ich setze mich zu ihnen. Die beiden haben auch in Ivrea übernachtet und beklagen, dass sie aufgrund der Wassergeräusche des Flusses und der Musik, die allenthalben überall aus den Bars scholl, schlecht geschlafen haben und daher auf der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit auf dem Land sind, um mal wieder durchschlafen zu können. Sie meint, je eher desto besser. Sie möchte sich mal wieder ein bisschen ausruhen; schließlich habe sie Urlaub. Die beiden sind irgendwie cool. Sie haben Schuhe und Socken ausgezogen und alles liegt zum Trocknen in der Sonne. Sie erzählen mir, dass sie aus Friesland kommen und sind verwundert, dass ich weiß, wo das ist.

Ich trinke zwei Café und einen eiskalten Saft. Das bringt mich wieder in Schwung und so pilgere ich nach einer halben Stunde weiter. Vor mir liegt der Lago di Viverone. Schade dass es noch so früh im Jahr ist, andernfalls würde ich jetzt baden gehen. Ich kann mir durchaus vorstellen, wie kalt das Wasser ist und mache erst gar nicht den Versuch, schwimmen zu gehen. Statt dessen fasse ich das nächste Etappenziel Santhia ins Auge. Ich checke, während ich weiter wandere die Übernachtungsmöglichkeiten. In Santhia selbst kann ich über booking.com nichts finden und entscheide mich daher für ein Golfhotel direkt vor Santhia. Hier sitze ich nun in der Sonne mit einem Dolcetto, schaue auf Das Grün von Loch 18 und schreibe meinen Report.

Möglicherweise wundert Ihr Euch, dass ich weder gestern noch heute einen interessanten Gedanken aufgeschrieben habe. Das ist leicht erklärt. Bei der Schönheit der Landschaft ist mein Geist vollständig mit der Bewunderung meines Umfeldes ausgelastet.

Heute bin ich ca. 31 km voran gekommen und habe in der Hitze Unmengen an Flüssigkeit verloren aber auch sicher vier Liter Wasser getrunken, das ich immer wieder aus den Wasserquellen in den Ortschaften in meine Wasserflaschen abfülle.

Tag 10: 13.05.17

 

Der Tag fängt gut an. In dem B&B gibt es ein tolles Frühstück. Der junge Mann, der es betreibt, hat eine erstklassige Küche mit tollem Equipment. Ich unterhalte mich kurz mit ihm über Küchen und Kochen und entsprechend verweile ich beim Frühstück länger als ich wollte. Als ich im Aufbrechen bin, kommt ein älteres – ich meine in meinem Alter – Pärchen herein. Sie sehen meinen Rucksack und lassen mich wissen, dass sie auch Pilger und vor sieben Wochen in Holland gestartet sind. Meine ersten Mitpilger!

Ich starte um kurz vor neun als die Sonne schon hoch steht und ordentlich wärmt. Aus Pont-Saint-Martin geht es recht eben auf Nebenstraßen aus dem Ort. Kurz darauf muss ich mich entscheiden: hoch in die Weinberge oder entlang der Bundesstraße. Wenn ich die Wanderkarte richtig interpretiere, gibt es heute nur drei Anstiege. Das ist in Ordnung und so wähle ich die Weinberge.

Kurze Zeit später verlasse ich die Provinz Aosta und komme ins Piemont. Das bedeutet keine Berge mehr sondern nur noch Hügel, die es trotzdem in sich haben können.

Auf den Bildern kann man sehen, dass hier die Weinstöcke anders als üblich gezogen werden. Den ganzen Tag über komme ich immer wieder an diesen „Säulen“ vorbei, meist genutzt um Holzbalken aufzulegen, an denen entlang die Weinstöcke sich ranken, aber auch als Dekorationselemente in Gärten und auf Mauern.

Nach zwei Stunden treffe ich wieder auf die Holländischen Pilger, die die Abkürzung entlang der Bundesstraße gewählt haben. Sie sind etwas faul, was sich nicht nur aufgrund der Wahl des Weges fest machen lässt sondern auch daran, dass sie ihre Rucksäcke mit dem Taxi transportieren lassen.

Der Weg heute ist nicht nur wegen des schönen Wetters einfach toll sondern auch wegen der tollen Landschaft und des Weges, der mich nicht einmal auf viel befahrene Straßen führt oder entlang der Autobahn.

Um die Mittagszeit komme ich durch einen Ort mit einem Markt. Ich kaufe mir einige Kirschen, die hier schon reif sind, und Aprikosen und esse diese während ich weiterlaufe auf. Die Sonne trocknet mich trotzdem aus. So beschließe ich, in Ivrea, einer hübschen Kleinstadt mit einer sehr belebten Fußgängerzone, einer Burg und einem Duomo, zu übernachten. Ich buche über das Internet ein B&B, das stark empfohlen wird und mitten in der Fußgängerzone liegt.

Ich werde freundlich von einem jungen Mädchen empfangen, von der ich sogleich auch eine Reihe Empfehlungen bekomme, was ich besichtigen und ich unbedingt zu Abend essen muss. Nach einem ausgiebigen Mittagsschlaf folge ich ihren Empfehlungen. Da um mich herum es jede Menge Bars gibt, in denen laut Musik gespielt wird, gehe ich erst spät in mein Zimmer. Ruhe bekomme ich sowieso erst spät bei der Feierlaune der Ivreaer.

Heute habe ich es nur auf knapp 25 km  und 500 Höhenmeter gebracht. Morgen muss ich unbedingt mal wieder eine längere Etappe einlegen, gleichwohl ich bereits 300 km und somit ein Viertel der Strecke gelaufen bin.

Tag 9: 12.05.17

 

Erste Aktivität nach dem Aufstehen: ich prüfe, ob meine Sachen getrocknet sind. Natürlich sind sie es nicht. Funktionshemd, Unterhemd und -hose sind nur noch leicht feucht. Aber die Strümpfe und vor allem die Schuhe sind noch richtig gehend nass. Ich versuche mit dem Fön, die Schuhe zu trocknen. Der Fön sieht zwar high sophisticated aus, ist aber nicht zu gebrauchen, da er schon nach weniger als eine Minute wegen Überhitzung abschaltet. Wie soll man denn damit sich die Haare trocknen geschweige die Schuhe? Schon habe ich einen gehörigen Zorn auf das Hotel. Heute Nachmittag werde ich mir eine anständige Bleibe mit funktionierender Heizung suchen. Damit ist mein Ziel auch schon klar: ich werde bis nach Pont-Saint-Martin wandern, denn das ist die nächste Stadt mit einigen Hotels, die im Internet einen ordentlichen Eindruck machen.

Also ziehe ich meine „Schlappen“ an, die ich eigentlich nicht zum Wandern sondern für Abends, wenn ich in den Unterkünften einigermaßen saubere Treter brauche, mitschleppe. Das sind super leichte Nike Sportschuhe, die weniger als 200 gr. wiegen und die ich extra für diesen Zweck neu gekauft habe. Die Schuhe sind viel zu weich, vor allem das Obermaterial, das aus einer Art dünnes Netz besteht, ist nicht geeignet, um hier in den Bergen und auf dem feuchten Untergrund herumzulaufen. Aber was bleibt mir anderes übrig? Die Wanderschuhe und ein Paar nasse Socken befestige ich zum Trocknen außen am Rucksack. Regnen darf es nicht, sonst macht die Aktion keinen Sinn und viel schlimmer noch, das Regenwasser würde ungehindert durch meine Schuhe fließen.

So genug gejammert jetzt geht’s los. Schon nach 200 m geht es steil bergauf in ein Waldstück, kurz darauf wieder runter durch einen Wiesenweg! Hurra schon sind meine Strümpfe feucht. Meine Füsse sind begeistert und kündigen sofort an: „heute Abend gibt’s Blasen, Freundchen, wenn Du so weiter machst.“ Es wird noch besser, denn zur Abwechslung gehen wir wieder und noch weiter hoch, so dass ich sehen kann, wie sich die Autobahn prima eben im Tal am Fluss lang schlängelt.

Auf dem Weg runter stellt sich mir eine Schafherde in den Weg. Puh, die stinken aber ganz ordentlich mit ihrem nassen Fell und haben, weil sie vor mir Angst haben auch noch den ganzen Weg voll geschi…

Die Dorfbewohner auf der Höhe sind an Pilger gewöhnt. Aus jedem Haus, das ich passiere, ruft eine Signora oder ein Signor: „buongiorno, Pellegrino!“ „Buongiorno, Signora!“ Antworte ich höflich auch wenn ich oft die Herrschaften gar nicht zu Gesicht bekomme.

So jetzt bin ich unten im Tal und darf nach der Überquerung der Dora Baltea endlich durch die saftigen Wiesen ohne ständiges auf und ab am Fluss lang marschieren. Ich werde schneller aber nicht viel, da der Weg am Fluss selbst einem Fluss gleicht. Es gibt mehr Pfützen, seengleich, als trockene Stellen.

Im nächsten Ort muss ich unbedingt eine Bar aufsuchen, denn die nassen Socken malträtieren meine Füße und Hunger habe ich jetzt auch, da ich heute Morgen das Frühstück habe ausfallen lassen. Schon sehe ich die Beschilderung zu einem Restaurant. Dort angekommen falle ich durchgeschwitzt auf einen Stuhl. Der Kellner will umgehend wissen, ob ich das Lunchmenü oder a La Carte essen möchte. Ich will doch nur ein Panini. Das gibt es aber nicht. Ok, so nehme ich einen Vorspeisen Teller mit Lardo und einem heimischen Käse sowie warme Kastanien. Bevor ich esse, muss ich mir aber die Socken ausziehen und die Füße dick mit Hirschtalg eincremen. Die Socken und Schuhe lege ich draußen in die Sonne und komme wieder mit Flipflops ins Lokal. Ich kann mir vorstellen, dass die anderen Gäste nicht amused sind über mich und mein Verhalten: durchgeschwitztes Hemd, Flipflops, Schweissgeruch, … ich hab was Pennerhaftes an mir.

Das Essen ist köstlich. Der Kellner bietet mir seinen selbstgebrannten Schnaps zum Café an. Das lehne ich dankend ab. Wenn ich jetzt einen Schnapps trinke, brauche ich ein Bett und der Tag ist gelaufen. So bleibt es beim Café.

In der mittäglichen Wärme sind die Socken tatsächlich getrocknet und meine Füße fühlen sich wieder wohl – nicht lange. Weiter geht es unter der Autobahn durch. Der Weg in der Unterführung ist geflutet und ich komme nicht trockenen Fußes dadurch. An eine Drainage hat man hier wohl nicht gedacht. Nach der Unterführung verläuft der Weg doch tatsächlich direkt entlang der Autobahn – kaum zu glauben.

Ich fluche, „was soll das“. Ich werde mit Abgasen voll gepumpt und der Lärm ist unerträglich. Kommen LKWs wird man vom Windschatten, den diese erzeugen durch gerüttelt. „Sag mal, Du weißt aber auch nicht was Du willst!“ „Was machst Du den hier, Sigeric?“ „Ich kann Dein Gejammer – vor allem an einem so schönen Tag – einfach nicht mehr ertragen. Erst meckerst Du, weil es durch die Berge geht und willst unbedingt in die Ebene, wo sich die Autobahn befindet; kaum dort, stört Dich die Feuchtigkeit, die Flussebenen so mit sich bringen, der Lärm und was nicht noch alles. Was willst Du denn nun wirklich?“ „Ganz einfach: das andere“, antworte ich lachend und denke darüber nach, wie blöd wir Menschen gestrickt sind. Wir sind im Grund nicht zufrieden zu stellen. Haben wir das eine, wollen wir das andere. Haben wir etwas uns sehnlich gewünscht und erhalten es dann irgendwann, können wir uns nicht wirklich darüber freuen, da wir bereits etwas Neues noch „besseres“ haben möchten. Als ich meine Gedanken einigermaßen sortiert habe und Sigeric antworten will, ist er verschwunden. Ich fürchte er hat Angst vor den dunklen Wolken, die sich am Himmel zusammen brauen.

Während ich den Himmel über mir beobachte, sehe ich eine riesige Trutzburg in der Ferne an der Biegung des Flusses, auf einem gewaltigen Hügel thronend, vor mir auftauchen. Als ich auf Bard zulaufe, check ich schnell das Internet, um welche Festungsanlage es sich handelt. Ich lerne, dass es das Forte die Bard, im 19. Jahrhundert vom Hause Savoyen erbaut, ist. Das Fort sieht eher für mich wie eine mittelalterliche Burg aus und kann gar nicht glauben, dass die Anlage noch so jung ist.

Nach Bard muss ich aufgrund der Enge des Tales noch zweimal rauf und runter, um dann Pont-Saint-Martin bei leichtem Nieselregen zu erreichen. Schnell finde ich ein gehobenes Bed & Breakfast. Ich entscheide mich für das Haus, da mir das Hotel am Platze von außen nicht gefällt.

So nun müssen meine Füße untersucht werden. Ich kann es kaum glauben: keine nennenswerten Schäden, nichts was nicht mit einer großen Menge Creme repariert werden kann. Trotz nasser Füße, untauglicher Schuhe und gut 800 m Höhenunterschied sowie 27 km ist alles heil geblieben. Dann kann ich ja noch die Stadt erkunden gehen. Ach ja und die Heizkörper werden warm: morgen werden alle meine Sachen wieder trocken sein. Super!

Tag 8: 11.05.17

 

Meine Wirtin macht mir heute Morgen ein Frühstück – einfach aber besser als in den Häusern in denen ich bisher im Aostaltal war – und da sie es mir nun schon auf den Tisch gestellt hat, esse ich brav ihren selbst gemachten Kuchen und ein Brot mit selbst gemachter Birnenmarmelade. Sie will für die Nacht inkl. Abendessen und Frühstück 40 Euro haben. Das ist mehr als fair auch wenn ich heute Nacht zunächst ordentlich gefroren habe. Als ich mitten in der Nacht ausgekühlt aufgewacht bin, habe ich mich erst einmal auf die Suche nach einer zusätzlichen Decke gemacht. Unter der zweiten Decke habe ich es aushalten können, mich aber in dem für meine Verhältnisse zu engen Bett kaum getraut umzudrehen, da dies jedes Mal zu einem Kälteeinbruch unter den Decken führte.

Heute ziehe ich mich von vornherein dünner an als die letzten Tage. Da die Sonne aber nicht herauskommen will, muss ich erst die Innenjacke und später die Regenjacke überziehen. Es ist kalt geworden. Die Regenwahrscheinlichkeit gemäß Forecast liegt am Vormittag bei 15% und am Nachmittag bei 30%. Nach etwa einer Stunde tritt der Risikofall ein und das den ganzen restlichen Tag. Mal nieselt es mal regnet es und ich bin mal mehr mal weniger und mal mehr durchnässt. Am Nachmittag schwimmen meine Füße in den Schuhen. Durch die Kapillarwirkung der Socken saugen die sich bis in die Zehen voll Wasser und durchnässen so auch die Schuhe. Ich schwimme in meinen Schuhen.

Nur die nassen Haare haben mich verändert, sonst bin ich immer noch der selbe!

 Champagne

Es ist, trotz der tollen Alpenlandschaft und den mal verlassenen mal ordentlich hergerichteten Ansiedlungen, nicht gerade angenehm zu laufen. In Champagne – so heißt hier tatsächlich ein Ort – mache ich erst mal Pause und bekomme in einer Bar nun endlich meine erste Focaccia und danach einen Café. Anschließend kann ich begeistert die örtliche Kirche besichtigen und weiter ziehen.

Der Weg hat mich bisher nicht nur ermüdet sondern auch mürbe gemacht. Es geht ohne Unterlass zwischen etwa 500 und 700 m rauf und runter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der „gute“ Sigeric auf seinem Pilgerweg vor mehr als 1.000 Jahren auch ständig rauf und runter gerannt ist, um dem Papst die Meinung zu geigen. Der ist bestimmt schön eben unten dem Fluss folgend marschiert, wo heute die Autobahn entlang führt. Die nervt nicht nur wegen der priorisieren Lage sondern auch wegen des Lärms, die all die Fahrzeuge erzeugen.

Die Kirche und das Schloss von Chatillon

Bin ich schon in Rom? hier sind St. Peter und St. Paul außen und innen (Chatillon)

Ich bin in Nörgellaune und fange deshalb schon an, Selbstgespräche zu führen. Als ich mich wieder über einen erneuten glitschigen Anstieg bei mir selbst und Sigeric beschwere, fällt mir jemand ins Wort und fragt mich: „wenn Du hier so rum jammerst, solltest Du Dich mal fragen, warum Du nach Rom wanderst und nicht einfach eine WhatsApp schreibst, wenn Du Dich beim Papst beschweren willst – oder noch besser tweetest, damit es auch alle gleich mitbekommen, was Dich ärgert.“ „Wer bist Du überhaupt?“ „Oh, ja, sehr unhöflich von mir, ich bin Sigeric, Erzbischof von Canterbury!“ „Mach Witze! Reisen durch Raum und Zeit haben wir noch nicht erfunden“, gebe ich zurück. „Wie Du siehst, ist das auch gar nicht nötig. Denk mal ein wenig nach: Zu meiner Zeit waren Telegramm, Telex, Fax, Email, SMS, oder wie all das Zeug heißt, noch nicht erfunden. Hätte es das gegeben, hätte ich dem Papst eine gesalzene Email geschrieben und hätte das nicht geholfen, mehrere Tweets hinter her geschoben. Dann hätten wir schon gesehen, wie der gesprungen wäre. Gab es aber nicht, also musste ich persönlich hin: Zug, Autos und Flugzeuge gab es ebenfalls nicht, wie Du sicher weißt, also bin ich halt gelaufen. War ganz schön mutig von mir, wenn ich mich so zurück erinnere. Du hast das aber nicht nötig. Also raus mit der Sprache! Warum gehst Du nach Rom und schreibst nicht einfach eine Message auf Deinem Sofa sitzend oder, wenn Dir das zu unpersönlich ist, setzt Dich nicht in den nächsten Flieger: fünf Stunden maximal und Du stehst im Vatikan und überbringst Deine Botschaft.“

Ich glaub ich werde irre. Jetzt führe ich nicht nur Selbstgespräche sondern auch noch Zwiegespräche mit einer historischen Gestalt. Aber irgendwie muss ich mich ja motivieren und die Zeit vertreiben. Also rede ich weiter mit ihm. „Warum kommst ausgerechnet Du zu mir, um mich nach meinen Gründen hinsichtlich meiner Pilgerschaft zu fragen?“ „Wäre es Dir lieber, ich wäre Settembrini?“, entgegnet Sigeric. „Wer ist Settembrini?“ „Komm schon, erinnere Dich! Das ist der Mentor von Hans Castorp.“ „Du meinst den Freimaurer oder sollte ich besser sagen armen Kommunisten aus dem Zauberberg von Thomas Mann?“ „Genau jener!“ „Wie kommst Du denn jetzt gerade auf den?“ möchte ich wissen. „Du erinnerst mich an Hans Castorp und dann könnte ich die Rolle von Lodovico Settembrini übernehmen.“ „Warum erinnere ich Dich an Hans Castorp? Das war doch so ein junger Schnösel, das bin ich nun sicher nicht.“ „Junger Schnösel vielleicht. Aber sicher jemand der sich an einen Ort zurück zieht, der ihn fasziniert: Fast alle anderen Personen kommen nach Davos – Du erinnerst Dich, dass der Roman dort spielt – um zu sterben. Hoffen zwar geheilt zu werden, ist aber bloße Hoffnung. Natürlich gibt das keiner zu. Nichts desto trotz ist das die erste beschriebene Palliativ Einrichtung und Hofrat Behrens der erste Palliativ Mediziner. Hans Castorp, der angeblich nur seinen Cousin besuchen möchte, flieht vor der realen Welt und möchte lieber an einem Ort in den Alpen, an dem es sich angenehm leben lässt, ohne arbeiten zu müssen, sich Vergnügen und die Zeit vertreiben. Ist das nicht vergleichbar mit dem, was Du hier treibst?“ „Natürlich ist es das nicht“, wehre ich mich. „Ich habe ein klares Ziel. Ich möchte nach Rom pilgern und mich auf dem Weg an der Schönheit der Natur erfreuen, mich ihr aussetzen und mit den unterschiedlichsten Menschen in Kotakt kommen. Ich unterwerfe mich dabei, den Strapazen einer besonderen Reiseart: wandern. Ich bin alles andere als ein Müssiggänger wie Hans Castorp. Das einzige, was ich akzeptiere: oft wünschte ich, so unbeschwert, ohne jegliche Verpflichtungen wie Hans Castorp in dem Buch, leben zu können und ja, das Pilgern hat etwas von dieser Unbeschwertheit.“ „Aha, da haben wir es. Du hast doch etwas von ihm. Auch der Disput zwischen Dir und mir ist vergleichbar mit dem zwischen Castorp und Settembrini.“ „Es gibt aber dennoch einen gewaltigen Unterschied: ich bin weder Clawdia Chauchat begegnet noch auf der Suche nach ihr, ich bin glücklich verheiratet.“ „Sei doch nicht so kleinlich! Also gut, bin ich also Sigeric und ich begleite Dich heute ein Stück, sonst gibst Du sicher gleich auf. Da, weiter unten im Tal liegt Saint Vincent.“ „Ja – und?“ „Erkennst Du nicht das nette Hotel, in dem Du mal per Zufall mit Andrea warst?“ „Klar!“ „Na, willst Du nicht dort übernachten?“ „Damit Du mit Deiner Entourage nach Chatillon kannst, um Dich von einem Adligen fürstlich bewirten zu lassen? Nein, ich werde nicht schwach! Schau, der Regen hat aufgehört und jetzt bin auf einem Höhenweg. Läuft doch super gerade. So nun hau ab und lass mich in Ruhe.“ Ich habe ganz schön mit mir kämpfen müssen, um nicht schon in Saint Vincent Schluss zu machen und um in das richtig schicke Parc Hotel Billa und dem erstklassigen Restaurant im Grand Hotel zu gehen.

Grand Hotel und Parc Hotel Billa Saint Vincent

Ich hänge noch einmal zehn Kilometer dran und führe weiter Zwiegespräche mit Sigeric, der natürlich sich nicht weg schicken lässt. Da ich mir die Zeit vertreiben und mich von den Unbilden des Weges ablenken muss, führe ich unendlich lange Zwiegespräche – und es hilft.

Mehrfach übersehe ich Abzweigungen, der Weg ist sehr gut aber auch sehr eigenwillig ausgeschildert. Es stehen grosse von weit sichtbar Schilder an Stellen, wo es keine Abzweigungen gibt. An Kreuzungen muss man Schilder, Pfeile oder was immer genutzt wird, regelrecht suchen. Findet man sie, ist oft – zumindest mir – nicht klar, in welche Richtung sie weisen. Auf dem nassen Boden rutsche ich an dem einen oder anderen Steilstück aus. Ich hoffe das entschuldigt meine Lust auf Zwiegespräche. Reale Menschen sind weit und breit nicht in Sicht. Ich bin allein unterwegs.

Nach 33 km und ca. 1.500 m Höhenunterschied komme ich an einem Gasthaus vorbei: Hotel Napoleon. Hier frage ich, so nass wie ich bin, nach einem Zimmer. Ich bin froh, hier bleiben zu können, obgleich die Heizungen ausgeschaltet sind und ich nicht sicher sein kann, dass meine Anziehsachen morgen trocken sein werden.

Tag 7: 10.05.17

 

Heute ist das Frühstück nicht minder karg als gestern im Hospitz. Heute gibt es Weißbrot und zwar von vorgestern, dafür Café-Latte. Ich bin in Italien! Ok, ich denke, ab sofort verzichte ich wie auf dem Jakobsweg auf das Frühstück und werde am späteren Vormittag eine Focaccia oder ein Panini in einer Bar am Wegesrand essen. Für heute wird es gehen.

Was soll ich zum Weg sagen? Es ist ein traumhaft schöner Tag: die Sonne scheint und ich wandere durch blühende Wiesen, ausschlagenden Wäldern und entlang von Wassergräben, die überall im Aosta Tal  beginnend im 14. Jahrhundert – wie ich gelesen habe – zur Bewässerung der Felder angelegt wurden und noch heute genutzt werden. Vornehmlich geht es bis nach Aosta bergab.

Die blühenden Birken zwicken in der Nase und ich sprühe mir dann doch gleich mal ein Antialergikum in die Nase. Seit gestern tuen mir die Fersen vor allem, die des linken Fußes gehörig weh. Ich vermute, dass der steife Bergwanderschuh für meine Füße und meine Art zu laufen ungeeignet ist. Ich brauche eher einen Turnschuh mit einer flexiblen Sohle, um besser die Füße abrollen zu können und nicht so hart mit der Ferse aufsetzen zu müssen.

In Aosta angekommen suche ich gleich mal nach einem Sportgeschäft, bevor die Shops über die Mittagszeit schließen. In der Innenstadt gibt es eine ganze Reihe Geschäfte für Outdoor Aktivitäten aber kein richtiges Sportgeschäft, in dem man eine hinreichende Auswahl an Addidas, Nike oder ähnlichen Marken hätte. Extra in ein Einkaufszentrum außerhalb Aostas möchte ich nicht unbedingt gehen, daher klappere ich die Trekking Geschäfte ab, ob ich etwas geeignetes finde. Im vierten Geschäfte werde ich fündig und ein Verkäufer versteht auch zugleich mein Problem, als ich ihm erzähle, was mir weh tut und was ich vorhabe. Das ist prima, so bekomme ich zwei Schuhe empfohlen und ich entscheide mich nach langem Anprobieren in verschiedensten Größen für einen Schuh von Olang (hab ich noch nie von gehört) und nicht für den von Scarpa, der mir vorne etwas zu eng erscheint. Klasse ist auch der Service: meine Lowas darf ich im Geschäft lagern und bei passender Gelegenheit abholen.

So neu besohlt, schaue ich mir die Stadt und vor allem die Kathedrale an. Beeindruckend ist der dort ausgestellte Schrein aus Gold, der aussieht wie die Bundeslade. Ich kann leider nirgends finden, welche Bedeutung der Schrein tatsächlich hat. Natürlich gehe ich auch über die noch vorhandene Römerbrücke, entlang der Stadtmauer und vorbei an dem Triumphbogen, der von Kaiser Augustus gebaut wurde. Bevor ich die Stadt verlasse, esse ich, in der Sonne in der Fußgängerzone sitzend, ein gigantisches Panini, das ich gar nicht in der Lage bin aufzuessen und trinke zum Abschluss meinen ersten Italienischen Café auf dieser Tour.

Dann geht es raus aus der Stadt und hoch in die Weinberge Richtung Osten weiter das Aostatal entlang. Das Tal hier ist weit belebter als auf der Strecke vom Großen St. Bernhard nach Aosta runter, was man an offenen Bars und Restaurants in den kleinen Ortschaften sieht. Auch hier pilgere ich entlang von Bewässerungskanälen und rauf und runter durch Weinberge, vorbei an Burgruinen und durch Dörfer. Obwohl ich mich in den neuen Schuhen sehr wohl fühle, werde ich in der heißen Sonne vom auf und ab schnell müde. Als ich in dem Dörfchen Seran, das zu dem Dorf Quart gehört, ein B&B sehe, mache ich für heute Schluss.

Wie so oft muss die Wirtin erst mal das Zimmer, in dem drei Betten stehen, fertig machen. Das Bad müsste dringend technisch gewartet werden. Doch arg enttäuscht bin ich, als ich auf Nachfrage erfahre, dass das nächste Restaurant etwa zehn Kilometer entfernt ist. Die Gastgeberin sieht wohl mein Entsetzen und bietet mir Salami und Käse fürs Abendessen an. Das Angebot kann ich nicht ausschlagen, auch wenn ich wenig begeistert bin, da die gute Frau etwas messy mäßiges an sich hat.

Heute habe ich etwas mehr als 27 km geschafft und somit die 200 km Marke überschritten. Hic! Rom ich komme!

Tag 6: 09.05.17

 

Welch ein traumhaft schöner Tag. Als ich aufstehe und aus dem Fenster schaue, bescheint die Sonne die winterliche Landschaft und ich habe eine fantastische Fernsicht. Man kann leicht bis zur Mountblancspitze schauen.

Im Hospitz wird man von Chorälen über eine Lautsprecheranlage um 07:30 Uhr geweckt. Ich war allerdings schon wach, ich brauche morgens einfach ein bißchen Zeit. Die Musik spielt bis 08:00 Uhr – also bis zum Frühstück.

Das Frühstück ist schon etwas karg. Es gibt Brot, Butter und Erdbeermarmelade. Das hält erfahrungsgemäß nicht lange vor. Der Kaffee ist rationiert, da nicht mehr viel übrig ist. Alle Lebensmittel für die Wintermonate werden vor dem ersten Schnee eingelagert und müssen dann reichen, bis die Paßstraße geräumt ist.

Der Mönch, der kein Mönch ist, sondern ein Augustiner – ich war fälschlicherweise davon ausgegangen, dass das Hospitz von Benediktinern gemanagt wird – gibt mir nach dem Frühstück Schneeschuhe, damit ich sicher den Berg wieder herunter komme. Wir passen gemeinsam die Bindungen auf meine Schuhe an und ich bekomme noch Skistöcke ausgeliehen. Dann geht es los. Als ich nach draußen trete, haut mich die Winterlandschaft mit ihrer Schönheit um. Es ist schon irgendwie komisch: auf der einen Seite ist die Natur so überwältigend schön und auf der anderen Seite gnadenlos brutal. Gestern hatte ich noch das Gefühl, sie will mich umbringen und heute geht mir das Herz vor Freude bei einem solchen Anblick auf.

Zunächst habe ich ein paar Probleme mit den Schneeschuhen, denn es ist gar nicht so leicht, mit Ihnen in einem Steilhang zu laufen. Schnell habe ich den Bogen raus und laufe sicher durch über Nacht eisig gefrorenen Schnee. Etwas tiefer, auf der italienischen Seite, gehe ich zur Statue von Sankt Bernard, der das Hospitz vor mehr als 1.000 Jahren gebaut hat, und vor bei am Hotel Restaurant Italia, wo wir mal auf einer Urlaubsreise vor mehr als zehn Jahren übernachtet haben.

Als ich dort noch ein paar Aufnahmen mache, kommt der Augustiner auf Ski heran gerauscht, um mich nach unten zu begleiten. Er wolle eh mal schauen, wie weit die Italiener mit dem Schneeräumen gekommen seien. Als wir etwa 300 Meter tiefer auf die Italienischen Schneefräsen stoßen, gebe ich die Schneeschuhe samt Stöcke zurück. Für ihn geht es auf Fellen wieder hoch zum Hospitz und für mich runter Richtung Aosta. Ich muss aber weiter die Straße nehmen, da die Fußwege noch im tiefen Schnee versunken sind. Ich komme auf der sonnenbeschienen Straße zügig vorwärts, nur zieht sich das durch die Vielzahl der Haarnadelkurven lang hin. Die Straße kostet mich am Ende etwa zehn zusätzliche Kilometer.

Schnell wird es warm, die Handschuhe habe ich schon ausgezogen, als ich mich von dem Augustiner verabschiedet habe. Dann kommt kurze Zeit später meine Regenjacke dran und es dauert nicht lange und ich laufe nur noch im Hemd.

Die Straße und später der Weg führen durch kleine Siedlungen, die für mich typisch für die Italienische West-Alpenregion sind.

Aufgrund der Strapazen von gestern bin ich früh müde. Auch bin ich hungrig aber alles ist dienstags zu, hatte ich mich nach dem kargen Frühstück doch so auf einen Espresso und eine Focaccia gefreut. Daraus wird nichts. Das erste Hostel, das offen hat, finde ich nach gut 24 km. Ich entscheide mich hier zu bleiben. Ich bin der einzige Gast und bekomme ein schönes Zimmer mit einer großen Terasse, auf der ich nach dem Duschen in Badhose die Sonne genieße: was für Gegensätze, heute Morgen noch Winter und heute Nachmittag schon Sommer.

So lasse ich den Nachmittag, hungrig wie ich bin, verstreichen, Abendessen gibt es in der Trattoria bei den Eltern meiner Gastgeber erst um acht. Sonst ist weit und breit nichts offen und schon gar nicht am Nachmittag.

Tag 5: 08.05.17

 

Wow was ein Tag! Ich weiß gar nicht womit ich anfangen soll.

Zwei gute Nachrichten:

1.  ich hab es geschafft und bin oben auf dem Großen Sankt Bernhard angekommen!

2. Ich lebe noch! Warum ich das schon fast sensationell finde, werdet ihr später erfahren.

So nun der Reihe nach. Ich bin heute Morgen schon bereits um kurz nach acht aufgebrochen, da der Hotelerie mich bereits gestern Abend gebeten hatte um 07:30 Uhr zum Frühstück zu kommen. Höflich wie ich bin, habe ich das gemacht, obwohl ich alle Zeit der Welt habe, denn bis nach Bourg Saint Pierre sind es maximal vier Stunden und bis zur Passhöhe schaffe ich es nicht in einem Tag. Das hat mir zumindest der Hotelier gesagt. Nur sehr trainierte junge Leute könnten das. Als ich ihn frage, meint er: über die Paßstraße sei es kein Probelm über den Pass zu gehen, die Straße sei Schnee frei.

Also laufe ich los durch wunder schöne Alpenlandschaften mit frischen Wiesen, Almen, Mühlen und interessanten Wegen entlang von Bachläufen – ich muss tatsächlich über die Ablaufkante durchs Wasser balancieren. Hier ist alles so wie ich es beim Wandern besonders mag. Deshalb bin ich so unglaublich gerne in den Alpen.

Um 11:45 Uhr bin ich bereits an meinem Ziel angekommen. Aber alles ist geschlossen: Geschäfte, Restaurants und Hotels. Also labe ich mich an einem Brunnen und beschließe, doch noch weiter zu gehen. Es sind nach Wegweiser nur vier Stunden. Also sollte ich zwischen 15:30 und 16:00 Uhr spätestens oben sein. Das kriege ich hin, zumal das Wetter zunehmend besser wird und die Wolkendecke aufreißt.

Auf einer Alm, nachdem ich immer wieder durch Schneefelder musste, treffe ich zwei Einheimische, die die Almhütte für den Sommer herrichten wollen. Sie empfehlen mir, nicht dem ausgeschilderten Weg zu folgen, sondern die Paßstraße zu nehmen. Die sei geräumt und somit weit gehend Schnee und Eis frei. Ich folge dem Rat, steige ein Stück ab und komme so schnell auf die Straße. Mir kommen von oben immer wieder Skitourengeher entgegen. Einer hält an und schwärmt von dem super Firn – na toll und was hab ich davon? Das macht mich doch auch ein wenig stutzig. Aber die Fahrbahn ist meist trocken, auch wenn rechts und links der Straße sich Schneewände auftürmen. Dann höre ich Motorengeräusche und kann mir nicht erklären woher die kommen können, bis ich auf eine gigantische Scheefräse treffe, die schneckengleich den Pass hoch kriecht. Ich kann an der Fräse vorbei und nach einer Biegung sehe ich die nächste Fräse. Der Fahrer ist ausgestiegen und schaut sich um. Für heut sei Schluss, weiter komme er nicht mit seinem Gerät: zu viel Schnee.

Ich frage ihn, was soll ich tun, wo es doch maximal noch 1.500 m bis zur Passhöhe sind. Hier sei es schwierig. Es gibt aber einen Winterweg hoch, der sei besser. Auf meine Frage deutet er nach unten und unbestimmt in eine Richtung, die mir nicht sehr glaubhaft zu sein scheint meine Wanderkarte studierend. Genauer kann er mir den besseren Weg auch nicht beschreiben. Also nehme ich weiter die Straße, es ist ja nicht mehr weit. Nach nur kurzer Zeit ist der Schnee so tief, dass ich über die Knie einsinke und mir oft die Schuhe ausgezogen werden. Alle 50 m muss ich sie neu fest schnüren, um das Problem zu mindern. Auch wird mir kalt und ich ziehe Handschuhe an – gut dass ich die noch gekauft habe und stabile Schuhe an habe. Mich macht der Schnee fertig. Ich komme kaum noch vorwärts. Ob ich doch zurück soll? Aber wohin? Zurück muss ich auch durch den Schnee. Also zehn Schritte machen und dann rasten, zehn Schritte machen rasten. Dann schaut die Leitplanke der Straße aus dem Schnee. Prima auf der balanciere ich: wusste gar nicht, dass ich das kann. Was der Überlebenstrieb – denn ich bin bereits im Überlebens-Modus angekommen – alles so möglich macht. Dann ist auf einem mal die Straße, d. h. Leitplanke und Stöcke weg. Meine Wanderkarten App zeigt, ich bin mitten in der Wildniss und weit von der Straße abgekommen. Ich sehe jetzt ein Kreuz. Also gibt es hier Zivilisation. Ich stapfe in meiner zehn Schritte Taktik auf das Kreuz oberhalb von mir Lawinenabgänge kreuzend zu. Kurz vor dem Kreuz erreiche ich ein Haus. Alles verschlossen – zumindest ist ein Zugang über Tür und Fenster nicht zu erreichen, da Schneemassen gegen sie drücken. Also weiter, ich merke mir die Position des Hauses  als Rückfallstrategie. Schon lange bin ich nicht mehr überzeugt, dass ich, bei dem Kräfteverzehr, an mein Ziel komme. Aber noch bin ich nicht soweit, mich in den Schnee zu setzten und aufzugeben – auch wenn das sehr verlockend wirkt. Der in meine Schuhe eindringend Schnee hat meine Socken durchnässt und ich habe nur noch Eisklumpen als Füße. Mit meinen Händen sieht es auch nicht besser aus. Aber ich bin nicht der Typ, der einfach aufgibt. Nicht solange ein Funke Hoffnung besteht. Jetzt sehe ich wieder hundert Meter über mir eine Leitplanke. Auf die krabbele ich zu und hoffe, so weit oben zu sein, dass ich das Benediktiner Hospiz sehen kann. Das ist aber nicht der Fall. Trotzdem gibt es mir einen Energieschub, da ich weiß, dass die Leitplanke, so lange sie aus dem Schnee schaut, ein leichteres Laufen ermöglicht. Als die Leitplanke wieder im Schnee verschwindet, die Erlösung: ich sehe das Hospitz und es sind geschätzt nur noch zweihundert Meter, die doch noch einmal alles von mir abverlangen. Kaum habe ich Tür des Klosters geöffnet, werde ich zunächst vom Küchenpersonal und dann von einem Mönch willkommen geheißen. Ich bin so erschöpft, dass ich kaum ein Wort heraus bringe. Nach einem heißen Tee und einem Saft geht es mir wieder besser. Der Mönch bietet mir ein Einzelzimmer mit Halbpension für einen guten Preis an. Ich könne auch, sollte ich bedürftig sein, im Dormitorium ein Bett gratis bekommen. Da der Preis fair ist, entscheide ich mich für das Einzelzimmer ohne Bad und Toilette selbstverständlich. Das ist mir heute sowas von egal, schließlich tritt jeglicher Komfort in den Hintergrund, wenn man um das nackte Leben gekämpft hat und froh ist, dass alles gut ausgegangen ist. Jetzt muss ich endlich aus meinen nassen Sachen raus und meine dem Erfrieren nahen Füße und Hände eine ganz lange heiß Dusche gönnen.

Noch ganz wackelig auf den Beine gehe ich zur Messe. Ich bin neben zwei Priestern der einzige Gottesdienst Besucher. Ich verstehe kein Wort, da die Messe auf französisch ist. Nach einer halben Stunde ist Schluss.

Vor dem Abendessen kommt der Priester, der mich in Empfang genommen hatte, auf mich zu und bietet mir für den Abstieg morgen Schneeschuhe an. Das ist ein tolles Angebot, das ich gerne annehme.

Am gemeinsamen Abendessen im Schankraum nehmen nur die Gäste, die im Hospiz übernachten, teil. Es sind noch zwei junge Pärchen, eines aus Franreich und ein anderes aus Lausanne, da. Sie sind mit Tourenski aufgestiegen und wollen morgen wieder abfahren. Viel reden muss ich nicht, denn zwei von den vier anderen Gästen sprechen nur französisch, einer etwas Deutsch und einer passables Englisch.

Nach dem Abendessen wird das Museum des Hospitz, im Nachbargebäude gelegen, geöffnet. Auf der Brücke zwischen den beiden Gebäuden mache ich noch eine Aufnahme. Jetzt am Abend hat es sich wieder zugezogen. Hätte ich einen solchen Nebel bei meinem Aufstieg gehabt, hätte ich sicherlich nicht hier her gefunden. Mann hatte ich ein Glück heute.

Das Museum ist mit modernster Präsentationstechnik ausgerüstet. Vieles wird über curved UHD Monitore erläutert. Aber auch konvetionelle Techniken kommen zum Einsatz: ein Foto des Klosters mit aktuellen und historischen Wetterdaten.

Ach und so sieht ein Einzelzimmer aus. Ich dachte ich bekomme eine „Zelle“ statt dessen einen riesigen Raum mit Betten zur Auswahl:

So und zum Schluss noch die „technischen Daten“:

36,36 km – 8 Stunden 41 Minuten – 2.588 m an Höhe gewonnen – 1.009 m an Höhe verloren – max. Höhe (Paßhöhe) 2.484 m – 2.426 kKalorien (das glaube ich nie – gefühlt waren das 10.000 – stimmt natürlich noch weniger) – und jetzt noch die dazu gehörigen Grafik.

 

Tag 4: 07.05.17

 

Der Wecker klingelt um 7:00 Uhr. Es regnet. Ein klares Zeichen noch eine Stunde zu schlafen. Es regnet immer noch, obwohl meine Wetterapp klar prognostiziert, ab acht wird es schön. Als ich dann um halb zehn endlich aufbreche, nieselt es nur noch. Der Nieslregen begleitet mich noch etwa eine Stunde auf den schmalen steilen Wegen entlang der Rhone. Als ich den Fluss auf einer extrem schwingenden Stahlseilbrücke überquere, sehe ich Angler im Fluss stehen: eine meiner Lieblingsbeschäftigungen – Angler beim Fischen zusehen.

Im nächsten Ort trinke ich in einer Bar einen Kaffee. Die Besitzerin spendiert ihn mir, da ich Pilger auf der Via Francigena bin. Ich bin ihr erster Pilger in dieser Saison. Kein Wunder, dass ich bisher noch niemanden getroffen habe, gleichwohl es mich nicht verwundert, dass sich selten ein Pilger in diese Bar verirrt.

Nun bin ich tatsächlich in alpinem Gelände. Über kleinste extrem steile Wege, die aufgrund des Regens in den letzten Tagen völlig aufgeweicht sind, geht es über Geröll, klitschige Wurzeln und glatte Steine wie auf einem Klettersteig hoch und runter. Ich muss mich extrem konzentrieren, um nicht auszurutschen und komme so nur langsam voran. Trotz des alpinen Geländes ist die Zivilisation nicht weit entfernt. Durch das enge Tal fährt Auto an Auto und erfüllt die gesamte Umgebung mit Lärm – schrecklich. Dann erreiche ich den kleinen Ort Sembrancher, wo ich das Rhonetal verlasse und direkt nach Süden abbiege.

Jetzt werden die Wege wieder breiter und es geht stetig bergauf. Auf diese Weise gewinne ich mit allen aufs und abs heute 400 Höhenmeter (fast 1.300 hoch und wieder fast 900 runter). Erschöpft erreiche ich Orsires. Ein kleiner Ort den Napoleon bei seinem Italienfeldzug über drei Tage mit seinen Truppen durchquert hat. Ich beschließe hier heute zu übernachten. Aber bevor ich das einzige Hotel suchen gehe, werfe ich noch einen Blick in die über 1.000 Jahre alte Kirche mit ihren wunderschönen Fenstern.

Ich bin völlig kaputt. Im Hotel ist niemand. Also rufe ich an. Erst klingelt es an der unbesetzten Rezeption und dannn nach langem Klingeln meldet sich ein Herr und teilt mir mit, dass noch ein Zimmer frei ist aber er erst in zwanzig Minuten bei mir sein kann. Tatsächlich werden es vierzig Minuten und er entschuldigt sich damit, dass heute zwei seiner Enkel getauft würden. Als er mir den Zimmerschlüssel aushändigen will, ist er überrascht, dass er auf der Theke liegt. Ihm kommt der Verdacht, dass es noch nicht gemacht ist. Also ruft er das Zimmermädchen an, das seinen Verdacht bestätigt. Er bittet mich im Gastraum zu warten, er müsse wieder zurück zur Taufe, das Zimmermädchen komme gleich. Es dauert nochmals eine halbe Stunde bis sie vor fährt und dann eine weitere halbe Stunde bis sie fertig ist.  Was bin ich froh jetzt endlich eine Dusche zu bekommen. Auch wenn das heute nur knapp über 24 km waren.

Zum Essen gehe ich runter, nur um zu erfahren, dass sie heute wegen der Taufe geschlossen haben. Man teilt mir mit, dass ich heute vermutlich nur im Restaurant des Alpes noch Abendessen bekommen dürfte. Also gehe ich dort hin: es gibt nur Menüs, das aber zu gesalzenen Preisen. Eigentlich hatte ich gehofft, eine einfache Bernerwurst mit Pommes Frites essen zu können, nachdem sonst fast nur Italienische Restaurants auf meinen Wegen lagen. Das Essen haut mich allerdings um: vor allem das Hauptgericht aus Blutwurst mit Birnen, Kartoffelpüree und einer Pinot Noir Sauce ist eine wahre Meisterleistung – absolute Spitzenklasse. Ich frage mich, wie sich ein solcher Gourmet Tempel in einem Dorf, in einem verlassen wirkenden Alpental, halten kann?

Heute war ein interessanter Tag: Regen und Sonne, Quälen auf dem Weg. Warten im Hotel und ein göttliches Abendessen. Diese Gegensätze führen mich zwangsläufig zu der Frage: warum mache ich das?

Auf meinem Camino habe ich das erst spät heraus gefunden. Hier, auf der Via Francigena weiß ich das schon jetzt. Möglich, dass ich später auf dem Weg zu neuen und weiteren Erkenntnissen gelange. Aber jetzt ist mir klar, es ist eben diese Hausforderung, mit beschränkten Mitteln und Kräften ein Ziel erreichen zu wollen: in Rom zu Fuß und gesund anzukommen. Alles hat sich diesem Ziel unterzuordnen. Denn ich weiß, welche Freude es sein wird, in Rom einzumarschieren und vor dem Petersdom zu stehen. Aus dem Willen, das Ziel zu erreichen und die Vorfreude anzukommen, entsteht in mir eine ungeheure Motivation. Eine Motivation die unglaubliche Kräfte frei setzt, die man bisher nicht gekannt hat, Risiken einzugehen, natürlich nur so viel, dass die Zielerreichung nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird, aber doch so viel, dass sie möglich wird. Es ist das Wissen, am Ende belohnt zu werden, es sich selbst gezeigt zu haben. Nicht anderen sich selbst.

Sich für eine begrenzte Zeit nur noch auf das Wesentliche reduzieren zu müssen: schlafen, essen, trinken. Alles andere verliert für die Dauer des Weges an Bedeutung. Allen anderen Balast abzuwerfen, um die Zielerreichung nicht zu gefährden, bewirkt bei mir ein Gefühl vollkommener Freiheit und macht meinen Kopf frei für neue Gedanken und Ideen. Daraus entsteht eine Kraft und Energie, die mir über den Weg hinaus dauerhaft zur Verfügung steht. Es erzeugt Gelassenheit und Stärke.

Eine solche Wanderschaft ist auch eine Reise ins eigene ich. Ich gehe deshalb den Weg auch alleine: ich will mir die Zeit nehmen, um nachzudenken, manchmal auch nur um des reinen Denkens willen. Alles was einem durch den Kopf geht und in mein Tagebuch soll, muss ich mir merken. Ich kann ja schließlich nicht ständig stehen bleiben und mir jeden Gedanken aufschreiben. Das trainiert das Gehirn, Wichtiges zu behalten und Unwichtiges sofort wieder zu verwerfen.

Natürlich stellt sich auf einem Pilgerweg auch immer wieder die Frage nach Gott und existiert, ein alles ordnendes Wesen. Ich habe dazu Antworten auf meinem Weg durch Nordspanien gefunden. Ich werde darüber tatsächlich, wenn ich denn mal die Po Ebene erreicht habe, weiter nachdenken.

Es sind demnach vier Gründe, die mich hier raus in die Berge getrieben haben: (1) die Herausforderung, (2) sich auf das wesentliche zu reduzieren, (3) die Reise ins eigene ich und (4) die Frage nach Gott und damit nach der eigenen Verantwortung, dem Streben nach Glück und natürlich dem Umgang mit anderen Menschen.

So Schluss damit. Jetzt gehört meine Aufmerksamkeit den vor mir liegenden körperlichen Herausforderungen und die Auseinandersetzung mit den Naturgewalten. Es hat gestern und heute wieder auf dem Berg geschneit und ich muss mich mit dem Gedanken vertraut machen, dass ich durch hochalpines Gelände bei Schnee wandern muss, obwohl ich nur bedingt dafür ausgerüstet bin.

Tag 3: 06.05.17

 

Auch heute klingelt der Wecker wieder um 07:00 Uhr. Tatsächlich stehe ich erst um 07:30 Uhr auf, da ich im Hotel erst um 08:30 Uhr Frühstück bekommen kann. Obwohl in der Schweiz handelt es sich um ein eher einfaches französisches Frühstück. Um 09:00 Uhr breche ich auf.  Die Sonne scheint und es ist warm. Es geht rauf und runter durch Weinberge und Wälder.

Das ist Schweiß treibend, so dass ich mich an einem der vielen Brunnen erfrische.

Das Rhonetal wird vor St. Maurice, einem mittelalterlichen Städtchen, das zwischen Felsen und Fluss eingezwängt ist, sehr eng. Autobahn, regionale Straßen und Bahntrasse haben kaum Platz. Vor dem Eingang der Stadt klebt eine Burg am Berg. Kurz vor St. Maurice werde ich von einem eiskalten heftigen Regenschauer überrascht. Der starke Wind vertreibt die Regenwolken aber schnell wieder.

Kaum in der Stadt liegt leicht erhöht eine kathedralengleiche Kirche.

Ich habe bisher noch keinen Pilger getroffen aber in das Gästebuch der Kirche hat sich gestern eine Deutsche Pilgergruppe eingetragen, die eine Reliquie aus dieser Kirche abzuholen beabsichtigt. Soweit meine bisher spannendste Erfahrung mit anderen Pilgern.

Weiter geht es zu meinem heutigen Ziel nach Martigny. Schon kurz hinter St. Maurice fängt es wieder an zu nieseln. Der Regen begleitet mich die nächsten dreieinhalb Stunden bis nach Martigny. Auch wenn es nicht stark regnet, so werde ich auf Dauer doch ganz schön nass. Aber meine Ausrüstung bewährt sich im Regen und meine Haare bieten ebenfalls hinreichend Schutz. Im Regen stehen und liegen Kühe und sehen auch nicht gerade glücklich bei diesem Wetter drein. Ich hoffe das gerade zur Welt gekommene Kälbchen erkältet sich nicht gleich.

Dann erreiche ich nach 7 Stunden und knapp 37 km Martigny. Der Stadteingang wird von einer Holzbrücke über die Rhone markiert.

Ich durchwandere das Zentrum der Stadt und besichtige durchnässt, wie ich bin, die Kirche, da ich weiß, dass angekommen im Hotel ich mich nicht mehr aufraffen werde, die Stadt zu besichtigen. Ich bin heute bis an meine Grenzen gegangen. Morgen muss ich es etwas ruhiger angehen lassen, bevor es hoch auf den Großen St. Bernhard geht.

Nach dem Duschen muss ich zu meinem Leidwesen feststellen, dass ich mir doch tatsächlich am rechten Fuß an der längsten meiner Zehen eine Blase eingehandelt habe. Na toll trotz Hirschtalgcreme! Ballen und Fresen sehen aber gut aus – wenigsten etwas.

Tag 2: 05.05.17

 

Bei Sonnenschein sieht alles schon viel besser aus: nicht nur die Sicht ist fantastisch sondern es läuft sich auch viel angenehmer. Heute tun mit die Beine erst ab Kilometer 20 weh. Der Körper hat noch Nachholbedarf und muss einiges an Muskelkraft bis zu den wahren Bergetappen aufbauen. Aber bis dahin sind es noch 3 oder 4 Tage.

Wie schon auf dem Camino beschäftige ich mich in den ersten Tagen mehr mit meinem Körper als mit irgend welchen anderen Fragen. Ich bin so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass mein Kopf nicht frei ist, um auf andere Gedanken zu kommen.

Zurück zum Weg: Heute laufe ich zumeist am Ufer von Vevey über Montreux bis nach Villeneuve entlang des Genfersees mit tollen Plantanenalleen vorbei an der einen oder anderen Burg.

In Villeneuve habe ich das Ostufer des Sees erreicht und nun geht es das Rhonetal Flussaufwärts. Meist verläuft der Weg im Tal aber hin und wieder geht es hinauf in die Weinberge. Daher werde ich mir zum Abendessen dann auch einen Pinot Noir aus den Weinbergen von Aigle gönnen.

In den Weinbergen hoch über Aigle komme ich in der Sonne, die heute ununterbrochen auf mich hinab scheint, ganz schön ins Schwitzen. An einem Brunnen, obwohl ich Aigle schon sehen kann, mache ich Halt und trinke gierig mehr als einen Liter von dem frischen Wasser.

In Aigle mache ich nach genau 28 km Schluss für heute. Meine Fresen schmerzen, meine Oberschenkel signalisieren, es reicht jetzt – auch will ich mich nicht schon jetzt völlig verausgaben. Es liegen ja noch immer fast 1.200 km vor mir.

 

Tag 1: 04.05.2017

 

Na das fängt ja gut an: es regnet den ganzen Tag und meine Beine und Füße nehmen mir die gut 30 km von Lausanne nach Vevey echt übel. Mir fehlt mal wieder die nötige  Muskulatur. Ich hoffe sie wird sich schnell aufbauen.

Der Weg durch Lausanne ist nicht wirklich prickelnd: es geht entlang einer Bahnlinie, durch Industriegebiete bis am Ende der Stadt der Weg endlich das Ufer des Genfersees erreicht. Aber auch die schönste Landschaft wirkt bei Regen trist.

Vom Ufer aus sieht man eine Vielzahl von herrschaftlichen Villen – natürlich aber auch renovierungsbedürftige Häuser mit kleineren und größeren Grundstücken. Später führt der Weg weg von dem Ufer in die Weinberge, von wo man einen fantastischen Blick auf Vevey und den See hat.

In Vevey suche ich mir ein Hotel und werde direkt am Ufer fündig. Es ist ein kleines Haus – eine Hostellerie. Wie auch schon in Lausanne sind die Zimmer teuer dafür klein und spärlich ausgestattet. Auch die Restaurants sind extrem teuer.

Genug gejammert! Ich bin satt, kann in meinem Zimmer relaxen und Morgen soll’s schön werden.

Hier meine wichtigsten Daten von heute:

03. Mai 2017

 

So nun geht es los! Mit dem Zug geht es von Mannheim mit Umsteigen in Bern nach Lausanne. Dort beginnt meine Pilgerreise auf der Via Francigena nach Rom.

Das Wetter in Lausanne ist sonnig aber dennoch recht frisch. Vom Bahnhof laufe ich zunächst hoch zur Kathedrale. Als ich diese betrete werde ich von lauter Orgelmusik empfangen. Zwei Orgelspieler üben sowohl klassische Stücke als auch Kirchenmusik. Die Orgel ist beeindruckend laut. Die Kathedrale ist hell und freundlich gestaltet mit wunderschönen Fenstern.

im rechten Seitenschiff ist ein Tisch für Pilger aufgestellt. Dort erhalte ich meinen ersten Stempel in meinen Pilgerpass. Ich trage mich in das Pilgerbuch mit einem kurzen Gruß ein: „Hier beginnt mein Weg – Rom ich komme!“

Danach gehe ich ins Hotel. Ich hatte mir schon vor einigen Wochen ein Zimmer im Tulip, Lausanne gebucht.