Erste Aktivität nach dem Aufstehen: ich prüfe, ob meine Sachen getrocknet sind. Natürlich sind sie es nicht. Funktionshemd, Unterhemd und -hose sind nur noch leicht feucht. Aber die Strümpfe und vor allem die Schuhe sind noch richtig gehend nass. Ich versuche mit dem Fön, die Schuhe zu trocknen. Der Fön sieht zwar high sophisticated aus, ist aber nicht zu gebrauchen, da er schon nach weniger als eine Minute wegen Überhitzung abschaltet. Wie soll man denn damit sich die Haare trocknen geschweige die Schuhe? Schon habe ich einen gehörigen Zorn auf das Hotel. Heute Nachmittag werde ich mir eine anständige Bleibe mit funktionierender Heizung suchen. Damit ist mein Ziel auch schon klar: ich werde bis nach Pont-Saint-Martin wandern, denn das ist die nächste Stadt mit einigen Hotels, die im Internet einen ordentlichen Eindruck machen.
Also ziehe ich meine „Schlappen“ an, die ich eigentlich nicht zum Wandern sondern für Abends, wenn ich in den Unterkünften einigermaßen saubere Treter brauche, mitschleppe. Das sind super leichte Nike Sportschuhe, die weniger als 200 gr. wiegen und die ich extra für diesen Zweck neu gekauft habe. Die Schuhe sind viel zu weich, vor allem das Obermaterial, das aus einer Art dünnes Netz besteht, ist nicht geeignet, um hier in den Bergen und auf dem feuchten Untergrund herumzulaufen. Aber was bleibt mir anderes übrig? Die Wanderschuhe und ein Paar nasse Socken befestige ich zum Trocknen außen am Rucksack. Regnen darf es nicht, sonst macht die Aktion keinen Sinn und viel schlimmer noch, das Regenwasser würde ungehindert durch meine Schuhe fließen.
So genug gejammert jetzt geht’s los. Schon nach 200 m geht es steil bergauf in ein Waldstück, kurz darauf wieder runter durch einen Wiesenweg! Hurra schon sind meine Strümpfe feucht. Meine Füsse sind begeistert und kündigen sofort an: „heute Abend gibt’s Blasen, Freundchen, wenn Du so weiter machst.“ Es wird noch besser, denn zur Abwechslung gehen wir wieder und noch weiter hoch, so dass ich sehen kann, wie sich die Autobahn prima eben im Tal am Fluss lang schlängelt.
Auf dem Weg runter stellt sich mir eine Schafherde in den Weg. Puh, die stinken aber ganz ordentlich mit ihrem nassen Fell und haben, weil sie vor mir Angst haben auch noch den ganzen Weg voll geschi…
Die Dorfbewohner auf der Höhe sind an Pilger gewöhnt. Aus jedem Haus, das ich passiere, ruft eine Signora oder ein Signor: „buongiorno, Pellegrino!“ „Buongiorno, Signora!“ Antworte ich höflich auch wenn ich oft die Herrschaften gar nicht zu Gesicht bekomme.
So jetzt bin ich unten im Tal und darf nach der Überquerung der Dora Baltea endlich durch die saftigen Wiesen ohne ständiges auf und ab am Fluss lang marschieren. Ich werde schneller aber nicht viel, da der Weg am Fluss selbst einem Fluss gleicht. Es gibt mehr Pfützen, seengleich, als trockene Stellen.
Im nächsten Ort muss ich unbedingt eine Bar aufsuchen, denn die nassen Socken malträtieren meine Füße und Hunger habe ich jetzt auch, da ich heute Morgen das Frühstück habe ausfallen lassen. Schon sehe ich die Beschilderung zu einem Restaurant. Dort angekommen falle ich durchgeschwitzt auf einen Stuhl. Der Kellner will umgehend wissen, ob ich das Lunchmenü oder a La Carte essen möchte. Ich will doch nur ein Panini. Das gibt es aber nicht. Ok, so nehme ich einen Vorspeisen Teller mit Lardo und einem heimischen Käse sowie warme Kastanien. Bevor ich esse, muss ich mir aber die Socken ausziehen und die Füße dick mit Hirschtalg eincremen. Die Socken und Schuhe lege ich draußen in die Sonne und komme wieder mit Flipflops ins Lokal. Ich kann mir vorstellen, dass die anderen Gäste nicht amused sind über mich und mein Verhalten: durchgeschwitztes Hemd, Flipflops, Schweissgeruch, … ich hab was Pennerhaftes an mir.
Das Essen ist köstlich. Der Kellner bietet mir seinen selbstgebrannten Schnaps zum Café an. Das lehne ich dankend ab. Wenn ich jetzt einen Schnapps trinke, brauche ich ein Bett und der Tag ist gelaufen. So bleibt es beim Café.
In der mittäglichen Wärme sind die Socken tatsächlich getrocknet und meine Füße fühlen sich wieder wohl – nicht lange. Weiter geht es unter der Autobahn durch. Der Weg in der Unterführung ist geflutet und ich komme nicht trockenen Fußes dadurch. An eine Drainage hat man hier wohl nicht gedacht. Nach der Unterführung verläuft der Weg doch tatsächlich direkt entlang der Autobahn – kaum zu glauben.
Ich fluche, „was soll das“. Ich werde mit Abgasen voll gepumpt und der Lärm ist unerträglich. Kommen LKWs wird man vom Windschatten, den diese erzeugen durch gerüttelt. „Sag mal, Du weißt aber auch nicht was Du willst!“ „Was machst Du den hier, Sigeric?“ „Ich kann Dein Gejammer – vor allem an einem so schönen Tag – einfach nicht mehr ertragen. Erst meckerst Du, weil es durch die Berge geht und willst unbedingt in die Ebene, wo sich die Autobahn befindet; kaum dort, stört Dich die Feuchtigkeit, die Flussebenen so mit sich bringen, der Lärm und was nicht noch alles. Was willst Du denn nun wirklich?“ „Ganz einfach: das andere“, antworte ich lachend und denke darüber nach, wie blöd wir Menschen gestrickt sind. Wir sind im Grund nicht zufrieden zu stellen. Haben wir das eine, wollen wir das andere. Haben wir etwas uns sehnlich gewünscht und erhalten es dann irgendwann, können wir uns nicht wirklich darüber freuen, da wir bereits etwas Neues noch „besseres“ haben möchten. Als ich meine Gedanken einigermaßen sortiert habe und Sigeric antworten will, ist er verschwunden. Ich fürchte er hat Angst vor den dunklen Wolken, die sich am Himmel zusammen brauen.
Während ich den Himmel über mir beobachte, sehe ich eine riesige Trutzburg in der Ferne an der Biegung des Flusses, auf einem gewaltigen Hügel thronend, vor mir auftauchen. Als ich auf Bard zulaufe, check ich schnell das Internet, um welche Festungsanlage es sich handelt. Ich lerne, dass es das Forte die Bard, im 19. Jahrhundert vom Hause Savoyen erbaut, ist. Das Fort sieht eher für mich wie eine mittelalterliche Burg aus und kann gar nicht glauben, dass die Anlage noch so jung ist.
Nach Bard muss ich aufgrund der Enge des Tales noch zweimal rauf und runter, um dann Pont-Saint-Martin bei leichtem Nieselregen zu erreichen. Schnell finde ich ein gehobenes Bed & Breakfast. Ich entscheide mich für das Haus, da mir das Hotel am Platze von außen nicht gefällt.
So nun müssen meine Füße untersucht werden. Ich kann es kaum glauben: keine nennenswerten Schäden, nichts was nicht mit einer großen Menge Creme repariert werden kann. Trotz nasser Füße, untauglicher Schuhe und gut 800 m Höhenunterschied sowie 27 km ist alles heil geblieben. Dann kann ich ja noch die Stadt erkunden gehen. Ach ja und die Heizkörper werden warm: morgen werden alle meine Sachen wieder trocken sein. Super!