Tag 5: 18.10.2023 —> Kalabrien, ist die Region arm?

Ein einfaches Frühstück (ein Croissant mit einem Cappuccino – mehr gibt es auch in Hotels in Italien nicht) und schon sind Pedro und ich wieder im Wald unterwegs, wo wir diesmal auf einen Pilzesammler treffen, der uns erzählt, dass er in Berlin gearbeitet habe, und dazu noch einen Steinpilz unter den Blättern herausfischt.

Ein erfolgreicher Pilzesammler mit Deutsch Kenntnissen 

Nach gut zehn Kilometern taucht aus dem Wald das Kartäuser Kloster Santo Stefano del Bosco auf. Als ein Lieferfahrzeug eingelassen wird, darf ich auch kurz eintreten und einen Blick hinter die Klostermauern werfen: eine riesige und beeindruckende Anlage. Nach Nordosten vom Kloster erstreckt sich die Stadt Serra San Bruno mit ihren engen Straßen und Gassen, je einer Kirche beim Stadtein- und -ausgang. Innen herrscht das übliche vormittägliche Treiben einer Italienischen Kleinstadt: viel Autoverkehr, wenige Fußgänger, viele Bars. Perfekt für eine ausgiebige Pause.

Kartäuser Kloster gegründet von einem Deutschen vor ca. 1.000 Jahren


Eine hübsche, lebendige Stadt im Aspromonte

Kaum aus Serra San Bruno raus komme ich durch zwei kleinere Orte mit kleinen netten Häusern, die meisten in keinem guten Pflegezustand und technisch sicher nicht auf dem neusten Stand. Junge Leute sehe ich keine in den Straßen. Ist das ärmlich?

Sieht so ärmlich aus?

Warum stelle ich mir die Frage? Vor einigen Wochen habe ich einen Podcast des SWR gehört mit dem Titel Maffia Länd. In dem werden u. a. die Verbindungen der hiesigen Maffia, der ‚Ndrangheta nach Baden-Württemberg beleuchtet. Die beiden Journalistinnen haben, so berichten sie in ihrem Podcast, Kalabrien besucht und stellen fest, dass die Orte alle ärmlich seien. Das Geld hat die Maffia und ihr Wirken, so wird unterstellt, blute das Land aus. Ich habe keine Ahnung von der Maffia und kann nicht einschätzen, was das mit den hier lebenden Menschen macht.

Ich beobachte allerdings einige Dinge, die journalistisch nicht aufgearbeitet wurden: Die Familien sitzen mit Kind und Kegel in den Restaurants und essen gemeinsam, sie suchen alle zusammen am Wochenende nach Pilzen, jeder – und wenn es Pilze suchen ist – arbeitet. Jeder hat ein Auto, ein Haus und die modernste Unterhaltungselektronik. Ist es ärmlich nur weil die Autos nicht so schick sind und die Häuser keine Wärmepumpe haben und oft einen frischen Anstrich gebrauchen könnten? Mir scheint, wir haben eine merkwürdige Ansicht über Ärmlichkeit entwickelt. Diese wäre aus meiner Sicht nur richtig, wenn die Menschen deshalb unglücklich wären. Sie wirken nicht so: jeder ist freundlich und ausgesprochen hilfsbereit, jeder grüßt höflich und mürrisch wirkt auch niemand.

Es muss dennoch Gründe geben, warum viele junge Leute in die großen Städte des Nordens oder nach Deutschland zum Arbeiten gehen. Die Landflucht der jungen Leute ist offensichtlich. Anders lässt sich auch nicht erklären, dass ganze Dörfer verlassen sind und die Häuser nur als Wochenend- oder Ferienhäuser genutzt werden.

Während ich vor mich hinlaufe geht mir das alles durch den Kopf und was Gründe – nicht bezogen auf Kalabrien sondern ganz allgemein und bei uns in Deutschland im Speziellen – für Landflucht, ständige Unzufriedenheit und zunehmenden psychischen Erkrankungen sein könnten.

Nichts, was ich nachfolgend ausführe, kann ich wissenschaftlich belegen. Es sind lediglich Hypothesen und Gedanken, die mir gerade bei meinen Wanderungen durch den Kopf gehen.

Hypothese 1: wir reden ständig über zunehmende Armut und falsche Alokation staatlicher Unterstützungen, woraus ein Empfinden der Benachteiligung und der Ungerechtigkeit entsteht. Am Ende glauben wir daran, dass wir arm sind und nicht bekommen, worauf wir Anspruch zu haben meinen.

Hypothese 2: Instagram und Co. suggerieren, alle anderen sind schön, reich, haben alles, was man für ein glückliches Leben braucht, reisen an die phantastischsten Orte dieser Welt und genießen das Leben aus vollen Zügen. Mit anderen Worten alle anderen führen ein glückliches Leben nur wir selbst nicht.

Hypothese 3: Es besteht der Zwang, Karriere zu machen, sich immer höhere Ziele zu setzen und wer das nicht schafft ist ein Looser. Da aber niemand ein Looser sein will, setzen uns unter einen Druck, dem wir psychisch nicht gewachsen sind und werden krank.

Kaum etwas von dem, was die Hypothesen unterstellen, ist auf dem Land zu bekommen. Daher wollen alle in die Städte, wo die Welt bunt, reich und unterhaltsam ist. Es geht ständig um das mehr, mehr, mehr. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass auch die Ronaldos dieser Welt keine bisschen glücklicher sind als die meisten anderen Menschen auch.

Mehr dazu Morgen. Heute sitze ich in einem netten Restaurant in einem „ärmlichen“ Dorf: Jeder Tisch besetzt, jeder Tisch mit mindestens 8 Personen belegt (außer meinem). Mir scheint, alle Einwohner mit Ausnahme der Nonnas und Nonnos sind hier versammelt. Es wird sich über Tische hinweg unterhalten – es ist unglaublich laut. Unglückliche Menschen sehen anders aus.

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