Tag 6: 09.05.17

 

Welch ein traumhaft schöner Tag. Als ich aufstehe und aus dem Fenster schaue, bescheint die Sonne die winterliche Landschaft und ich habe eine fantastische Fernsicht. Man kann leicht bis zur Mountblancspitze schauen.

Im Hospitz wird man von Chorälen über eine Lautsprecheranlage um 07:30 Uhr geweckt. Ich war allerdings schon wach, ich brauche morgens einfach ein bißchen Zeit. Die Musik spielt bis 08:00 Uhr – also bis zum Frühstück.

Das Frühstück ist schon etwas karg. Es gibt Brot, Butter und Erdbeermarmelade. Das hält erfahrungsgemäß nicht lange vor. Der Kaffee ist rationiert, da nicht mehr viel übrig ist. Alle Lebensmittel für die Wintermonate werden vor dem ersten Schnee eingelagert und müssen dann reichen, bis die Paßstraße geräumt ist.

Der Mönch, der kein Mönch ist, sondern ein Augustiner – ich war fälschlicherweise davon ausgegangen, dass das Hospitz von Benediktinern gemanagt wird – gibt mir nach dem Frühstück Schneeschuhe, damit ich sicher den Berg wieder herunter komme. Wir passen gemeinsam die Bindungen auf meine Schuhe an und ich bekomme noch Skistöcke ausgeliehen. Dann geht es los. Als ich nach draußen trete, haut mich die Winterlandschaft mit ihrer Schönheit um. Es ist schon irgendwie komisch: auf der einen Seite ist die Natur so überwältigend schön und auf der anderen Seite gnadenlos brutal. Gestern hatte ich noch das Gefühl, sie will mich umbringen und heute geht mir das Herz vor Freude bei einem solchen Anblick auf.

Zunächst habe ich ein paar Probleme mit den Schneeschuhen, denn es ist gar nicht so leicht, mit Ihnen in einem Steilhang zu laufen. Schnell habe ich den Bogen raus und laufe sicher durch über Nacht eisig gefrorenen Schnee. Etwas tiefer, auf der italienischen Seite, gehe ich zur Statue von Sankt Bernard, der das Hospitz vor mehr als 1.000 Jahren gebaut hat, und vor bei am Hotel Restaurant Italia, wo wir mal auf einer Urlaubsreise vor mehr als zehn Jahren übernachtet haben.

Als ich dort noch ein paar Aufnahmen mache, kommt der Augustiner auf Ski heran gerauscht, um mich nach unten zu begleiten. Er wolle eh mal schauen, wie weit die Italiener mit dem Schneeräumen gekommen seien. Als wir etwa 300 Meter tiefer auf die Italienischen Schneefräsen stoßen, gebe ich die Schneeschuhe samt Stöcke zurück. Für ihn geht es auf Fellen wieder hoch zum Hospitz und für mich runter Richtung Aosta. Ich muss aber weiter die Straße nehmen, da die Fußwege noch im tiefen Schnee versunken sind. Ich komme auf der sonnenbeschienen Straße zügig vorwärts, nur zieht sich das durch die Vielzahl der Haarnadelkurven lang hin. Die Straße kostet mich am Ende etwa zehn zusätzliche Kilometer.

Schnell wird es warm, die Handschuhe habe ich schon ausgezogen, als ich mich von dem Augustiner verabschiedet habe. Dann kommt kurze Zeit später meine Regenjacke dran und es dauert nicht lange und ich laufe nur noch im Hemd.

Die Straße und später der Weg führen durch kleine Siedlungen, die für mich typisch für die Italienische West-Alpenregion sind.

Aufgrund der Strapazen von gestern bin ich früh müde. Auch bin ich hungrig aber alles ist dienstags zu, hatte ich mich nach dem kargen Frühstück doch so auf einen Espresso und eine Focaccia gefreut. Daraus wird nichts. Das erste Hostel, das offen hat, finde ich nach gut 24 km. Ich entscheide mich hier zu bleiben. Ich bin der einzige Gast und bekomme ein schönes Zimmer mit einer großen Terasse, auf der ich nach dem Duschen in Badhose die Sonne genieße: was für Gegensätze, heute Morgen noch Winter und heute Nachmittag schon Sommer.

So lasse ich den Nachmittag, hungrig wie ich bin, verstreichen, Abendessen gibt es in der Trattoria bei den Eltern meiner Gastgeber erst um acht. Sonst ist weit und breit nichts offen und schon gar nicht am Nachmittag.

Tag 5: 08.05.17

 

Wow was ein Tag! Ich weiß gar nicht womit ich anfangen soll.

Zwei gute Nachrichten:

1.  ich hab es geschafft und bin oben auf dem Großen Sankt Bernhard angekommen!

2. Ich lebe noch! Warum ich das schon fast sensationell finde, werdet ihr später erfahren.

So nun der Reihe nach. Ich bin heute Morgen schon bereits um kurz nach acht aufgebrochen, da der Hotelerie mich bereits gestern Abend gebeten hatte um 07:30 Uhr zum Frühstück zu kommen. Höflich wie ich bin, habe ich das gemacht, obwohl ich alle Zeit der Welt habe, denn bis nach Bourg Saint Pierre sind es maximal vier Stunden und bis zur Passhöhe schaffe ich es nicht in einem Tag. Das hat mir zumindest der Hotelier gesagt. Nur sehr trainierte junge Leute könnten das. Als ich ihn frage, meint er: über die Paßstraße sei es kein Probelm über den Pass zu gehen, die Straße sei Schnee frei.

Also laufe ich los durch wunder schöne Alpenlandschaften mit frischen Wiesen, Almen, Mühlen und interessanten Wegen entlang von Bachläufen – ich muss tatsächlich über die Ablaufkante durchs Wasser balancieren. Hier ist alles so wie ich es beim Wandern besonders mag. Deshalb bin ich so unglaublich gerne in den Alpen.

Um 11:45 Uhr bin ich bereits an meinem Ziel angekommen. Aber alles ist geschlossen: Geschäfte, Restaurants und Hotels. Also labe ich mich an einem Brunnen und beschließe, doch noch weiter zu gehen. Es sind nach Wegweiser nur vier Stunden. Also sollte ich zwischen 15:30 und 16:00 Uhr spätestens oben sein. Das kriege ich hin, zumal das Wetter zunehmend besser wird und die Wolkendecke aufreißt.

Auf einer Alm, nachdem ich immer wieder durch Schneefelder musste, treffe ich zwei Einheimische, die die Almhütte für den Sommer herrichten wollen. Sie empfehlen mir, nicht dem ausgeschilderten Weg zu folgen, sondern die Paßstraße zu nehmen. Die sei geräumt und somit weit gehend Schnee und Eis frei. Ich folge dem Rat, steige ein Stück ab und komme so schnell auf die Straße. Mir kommen von oben immer wieder Skitourengeher entgegen. Einer hält an und schwärmt von dem super Firn – na toll und was hab ich davon? Das macht mich doch auch ein wenig stutzig. Aber die Fahrbahn ist meist trocken, auch wenn rechts und links der Straße sich Schneewände auftürmen. Dann höre ich Motorengeräusche und kann mir nicht erklären woher die kommen können, bis ich auf eine gigantische Scheefräse treffe, die schneckengleich den Pass hoch kriecht. Ich kann an der Fräse vorbei und nach einer Biegung sehe ich die nächste Fräse. Der Fahrer ist ausgestiegen und schaut sich um. Für heut sei Schluss, weiter komme er nicht mit seinem Gerät: zu viel Schnee.

Ich frage ihn, was soll ich tun, wo es doch maximal noch 1.500 m bis zur Passhöhe sind. Hier sei es schwierig. Es gibt aber einen Winterweg hoch, der sei besser. Auf meine Frage deutet er nach unten und unbestimmt in eine Richtung, die mir nicht sehr glaubhaft zu sein scheint meine Wanderkarte studierend. Genauer kann er mir den besseren Weg auch nicht beschreiben. Also nehme ich weiter die Straße, es ist ja nicht mehr weit. Nach nur kurzer Zeit ist der Schnee so tief, dass ich über die Knie einsinke und mir oft die Schuhe ausgezogen werden. Alle 50 m muss ich sie neu fest schnüren, um das Problem zu mindern. Auch wird mir kalt und ich ziehe Handschuhe an – gut dass ich die noch gekauft habe und stabile Schuhe an habe. Mich macht der Schnee fertig. Ich komme kaum noch vorwärts. Ob ich doch zurück soll? Aber wohin? Zurück muss ich auch durch den Schnee. Also zehn Schritte machen und dann rasten, zehn Schritte machen rasten. Dann schaut die Leitplanke der Straße aus dem Schnee. Prima auf der balanciere ich: wusste gar nicht, dass ich das kann. Was der Überlebenstrieb – denn ich bin bereits im Überlebens-Modus angekommen – alles so möglich macht. Dann ist auf einem mal die Straße, d. h. Leitplanke und Stöcke weg. Meine Wanderkarten App zeigt, ich bin mitten in der Wildniss und weit von der Straße abgekommen. Ich sehe jetzt ein Kreuz. Also gibt es hier Zivilisation. Ich stapfe in meiner zehn Schritte Taktik auf das Kreuz oberhalb von mir Lawinenabgänge kreuzend zu. Kurz vor dem Kreuz erreiche ich ein Haus. Alles verschlossen – zumindest ist ein Zugang über Tür und Fenster nicht zu erreichen, da Schneemassen gegen sie drücken. Also weiter, ich merke mir die Position des Hauses  als Rückfallstrategie. Schon lange bin ich nicht mehr überzeugt, dass ich, bei dem Kräfteverzehr, an mein Ziel komme. Aber noch bin ich nicht soweit, mich in den Schnee zu setzten und aufzugeben – auch wenn das sehr verlockend wirkt. Der in meine Schuhe eindringend Schnee hat meine Socken durchnässt und ich habe nur noch Eisklumpen als Füße. Mit meinen Händen sieht es auch nicht besser aus. Aber ich bin nicht der Typ, der einfach aufgibt. Nicht solange ein Funke Hoffnung besteht. Jetzt sehe ich wieder hundert Meter über mir eine Leitplanke. Auf die krabbele ich zu und hoffe, so weit oben zu sein, dass ich das Benediktiner Hospiz sehen kann. Das ist aber nicht der Fall. Trotzdem gibt es mir einen Energieschub, da ich weiß, dass die Leitplanke, so lange sie aus dem Schnee schaut, ein leichteres Laufen ermöglicht. Als die Leitplanke wieder im Schnee verschwindet, die Erlösung: ich sehe das Hospitz und es sind geschätzt nur noch zweihundert Meter, die doch noch einmal alles von mir abverlangen. Kaum habe ich Tür des Klosters geöffnet, werde ich zunächst vom Küchenpersonal und dann von einem Mönch willkommen geheißen. Ich bin so erschöpft, dass ich kaum ein Wort heraus bringe. Nach einem heißen Tee und einem Saft geht es mir wieder besser. Der Mönch bietet mir ein Einzelzimmer mit Halbpension für einen guten Preis an. Ich könne auch, sollte ich bedürftig sein, im Dormitorium ein Bett gratis bekommen. Da der Preis fair ist, entscheide ich mich für das Einzelzimmer ohne Bad und Toilette selbstverständlich. Das ist mir heute sowas von egal, schließlich tritt jeglicher Komfort in den Hintergrund, wenn man um das nackte Leben gekämpft hat und froh ist, dass alles gut ausgegangen ist. Jetzt muss ich endlich aus meinen nassen Sachen raus und meine dem Erfrieren nahen Füße und Hände eine ganz lange heiß Dusche gönnen.

Noch ganz wackelig auf den Beine gehe ich zur Messe. Ich bin neben zwei Priestern der einzige Gottesdienst Besucher. Ich verstehe kein Wort, da die Messe auf französisch ist. Nach einer halben Stunde ist Schluss.

Vor dem Abendessen kommt der Priester, der mich in Empfang genommen hatte, auf mich zu und bietet mir für den Abstieg morgen Schneeschuhe an. Das ist ein tolles Angebot, das ich gerne annehme.

Am gemeinsamen Abendessen im Schankraum nehmen nur die Gäste, die im Hospiz übernachten, teil. Es sind noch zwei junge Pärchen, eines aus Franreich und ein anderes aus Lausanne, da. Sie sind mit Tourenski aufgestiegen und wollen morgen wieder abfahren. Viel reden muss ich nicht, denn zwei von den vier anderen Gästen sprechen nur französisch, einer etwas Deutsch und einer passables Englisch.

Nach dem Abendessen wird das Museum des Hospitz, im Nachbargebäude gelegen, geöffnet. Auf der Brücke zwischen den beiden Gebäuden mache ich noch eine Aufnahme. Jetzt am Abend hat es sich wieder zugezogen. Hätte ich einen solchen Nebel bei meinem Aufstieg gehabt, hätte ich sicherlich nicht hier her gefunden. Mann hatte ich ein Glück heute.

Das Museum ist mit modernster Präsentationstechnik ausgerüstet. Vieles wird über curved UHD Monitore erläutert. Aber auch konvetionelle Techniken kommen zum Einsatz: ein Foto des Klosters mit aktuellen und historischen Wetterdaten.

Ach und so sieht ein Einzelzimmer aus. Ich dachte ich bekomme eine „Zelle“ statt dessen einen riesigen Raum mit Betten zur Auswahl:

So und zum Schluss noch die „technischen Daten“:

36,36 km – 8 Stunden 41 Minuten – 2.588 m an Höhe gewonnen – 1.009 m an Höhe verloren – max. Höhe (Paßhöhe) 2.484 m – 2.426 kKalorien (das glaube ich nie – gefühlt waren das 10.000 – stimmt natürlich noch weniger) – und jetzt noch die dazu gehörigen Grafik.

 

Tag 4: 07.05.17

 

Der Wecker klingelt um 7:00 Uhr. Es regnet. Ein klares Zeichen noch eine Stunde zu schlafen. Es regnet immer noch, obwohl meine Wetterapp klar prognostiziert, ab acht wird es schön. Als ich dann um halb zehn endlich aufbreche, nieselt es nur noch. Der Nieslregen begleitet mich noch etwa eine Stunde auf den schmalen steilen Wegen entlang der Rhone. Als ich den Fluss auf einer extrem schwingenden Stahlseilbrücke überquere, sehe ich Angler im Fluss stehen: eine meiner Lieblingsbeschäftigungen – Angler beim Fischen zusehen.

Im nächsten Ort trinke ich in einer Bar einen Kaffee. Die Besitzerin spendiert ihn mir, da ich Pilger auf der Via Francigena bin. Ich bin ihr erster Pilger in dieser Saison. Kein Wunder, dass ich bisher noch niemanden getroffen habe, gleichwohl es mich nicht verwundert, dass sich selten ein Pilger in diese Bar verirrt.

Nun bin ich tatsächlich in alpinem Gelände. Über kleinste extrem steile Wege, die aufgrund des Regens in den letzten Tagen völlig aufgeweicht sind, geht es über Geröll, klitschige Wurzeln und glatte Steine wie auf einem Klettersteig hoch und runter. Ich muss mich extrem konzentrieren, um nicht auszurutschen und komme so nur langsam voran. Trotz des alpinen Geländes ist die Zivilisation nicht weit entfernt. Durch das enge Tal fährt Auto an Auto und erfüllt die gesamte Umgebung mit Lärm – schrecklich. Dann erreiche ich den kleinen Ort Sembrancher, wo ich das Rhonetal verlasse und direkt nach Süden abbiege.

Jetzt werden die Wege wieder breiter und es geht stetig bergauf. Auf diese Weise gewinne ich mit allen aufs und abs heute 400 Höhenmeter (fast 1.300 hoch und wieder fast 900 runter). Erschöpft erreiche ich Orsires. Ein kleiner Ort den Napoleon bei seinem Italienfeldzug über drei Tage mit seinen Truppen durchquert hat. Ich beschließe hier heute zu übernachten. Aber bevor ich das einzige Hotel suchen gehe, werfe ich noch einen Blick in die über 1.000 Jahre alte Kirche mit ihren wunderschönen Fenstern.

Ich bin völlig kaputt. Im Hotel ist niemand. Also rufe ich an. Erst klingelt es an der unbesetzten Rezeption und dannn nach langem Klingeln meldet sich ein Herr und teilt mir mit, dass noch ein Zimmer frei ist aber er erst in zwanzig Minuten bei mir sein kann. Tatsächlich werden es vierzig Minuten und er entschuldigt sich damit, dass heute zwei seiner Enkel getauft würden. Als er mir den Zimmerschlüssel aushändigen will, ist er überrascht, dass er auf der Theke liegt. Ihm kommt der Verdacht, dass es noch nicht gemacht ist. Also ruft er das Zimmermädchen an, das seinen Verdacht bestätigt. Er bittet mich im Gastraum zu warten, er müsse wieder zurück zur Taufe, das Zimmermädchen komme gleich. Es dauert nochmals eine halbe Stunde bis sie vor fährt und dann eine weitere halbe Stunde bis sie fertig ist.  Was bin ich froh jetzt endlich eine Dusche zu bekommen. Auch wenn das heute nur knapp über 24 km waren.

Zum Essen gehe ich runter, nur um zu erfahren, dass sie heute wegen der Taufe geschlossen haben. Man teilt mir mit, dass ich heute vermutlich nur im Restaurant des Alpes noch Abendessen bekommen dürfte. Also gehe ich dort hin: es gibt nur Menüs, das aber zu gesalzenen Preisen. Eigentlich hatte ich gehofft, eine einfache Bernerwurst mit Pommes Frites essen zu können, nachdem sonst fast nur Italienische Restaurants auf meinen Wegen lagen. Das Essen haut mich allerdings um: vor allem das Hauptgericht aus Blutwurst mit Birnen, Kartoffelpüree und einer Pinot Noir Sauce ist eine wahre Meisterleistung – absolute Spitzenklasse. Ich frage mich, wie sich ein solcher Gourmet Tempel in einem Dorf, in einem verlassen wirkenden Alpental, halten kann?

Heute war ein interessanter Tag: Regen und Sonne, Quälen auf dem Weg. Warten im Hotel und ein göttliches Abendessen. Diese Gegensätze führen mich zwangsläufig zu der Frage: warum mache ich das?

Auf meinem Camino habe ich das erst spät heraus gefunden. Hier, auf der Via Francigena weiß ich das schon jetzt. Möglich, dass ich später auf dem Weg zu neuen und weiteren Erkenntnissen gelange. Aber jetzt ist mir klar, es ist eben diese Hausforderung, mit beschränkten Mitteln und Kräften ein Ziel erreichen zu wollen: in Rom zu Fuß und gesund anzukommen. Alles hat sich diesem Ziel unterzuordnen. Denn ich weiß, welche Freude es sein wird, in Rom einzumarschieren und vor dem Petersdom zu stehen. Aus dem Willen, das Ziel zu erreichen und die Vorfreude anzukommen, entsteht in mir eine ungeheure Motivation. Eine Motivation die unglaubliche Kräfte frei setzt, die man bisher nicht gekannt hat, Risiken einzugehen, natürlich nur so viel, dass die Zielerreichung nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird, aber doch so viel, dass sie möglich wird. Es ist das Wissen, am Ende belohnt zu werden, es sich selbst gezeigt zu haben. Nicht anderen sich selbst.

Sich für eine begrenzte Zeit nur noch auf das Wesentliche reduzieren zu müssen: schlafen, essen, trinken. Alles andere verliert für die Dauer des Weges an Bedeutung. Allen anderen Balast abzuwerfen, um die Zielerreichung nicht zu gefährden, bewirkt bei mir ein Gefühl vollkommener Freiheit und macht meinen Kopf frei für neue Gedanken und Ideen. Daraus entsteht eine Kraft und Energie, die mir über den Weg hinaus dauerhaft zur Verfügung steht. Es erzeugt Gelassenheit und Stärke.

Eine solche Wanderschaft ist auch eine Reise ins eigene ich. Ich gehe deshalb den Weg auch alleine: ich will mir die Zeit nehmen, um nachzudenken, manchmal auch nur um des reinen Denkens willen. Alles was einem durch den Kopf geht und in mein Tagebuch soll, muss ich mir merken. Ich kann ja schließlich nicht ständig stehen bleiben und mir jeden Gedanken aufschreiben. Das trainiert das Gehirn, Wichtiges zu behalten und Unwichtiges sofort wieder zu verwerfen.

Natürlich stellt sich auf einem Pilgerweg auch immer wieder die Frage nach Gott und existiert, ein alles ordnendes Wesen. Ich habe dazu Antworten auf meinem Weg durch Nordspanien gefunden. Ich werde darüber tatsächlich, wenn ich denn mal die Po Ebene erreicht habe, weiter nachdenken.

Es sind demnach vier Gründe, die mich hier raus in die Berge getrieben haben: (1) die Herausforderung, (2) sich auf das wesentliche zu reduzieren, (3) die Reise ins eigene ich und (4) die Frage nach Gott und damit nach der eigenen Verantwortung, dem Streben nach Glück und natürlich dem Umgang mit anderen Menschen.

So Schluss damit. Jetzt gehört meine Aufmerksamkeit den vor mir liegenden körperlichen Herausforderungen und die Auseinandersetzung mit den Naturgewalten. Es hat gestern und heute wieder auf dem Berg geschneit und ich muss mich mit dem Gedanken vertraut machen, dass ich durch hochalpines Gelände bei Schnee wandern muss, obwohl ich nur bedingt dafür ausgerüstet bin.

Tag 3: 06.05.17

 

Auch heute klingelt der Wecker wieder um 07:00 Uhr. Tatsächlich stehe ich erst um 07:30 Uhr auf, da ich im Hotel erst um 08:30 Uhr Frühstück bekommen kann. Obwohl in der Schweiz handelt es sich um ein eher einfaches französisches Frühstück. Um 09:00 Uhr breche ich auf.  Die Sonne scheint und es ist warm. Es geht rauf und runter durch Weinberge und Wälder.

Das ist Schweiß treibend, so dass ich mich an einem der vielen Brunnen erfrische.

Das Rhonetal wird vor St. Maurice, einem mittelalterlichen Städtchen, das zwischen Felsen und Fluss eingezwängt ist, sehr eng. Autobahn, regionale Straßen und Bahntrasse haben kaum Platz. Vor dem Eingang der Stadt klebt eine Burg am Berg. Kurz vor St. Maurice werde ich von einem eiskalten heftigen Regenschauer überrascht. Der starke Wind vertreibt die Regenwolken aber schnell wieder.

Kaum in der Stadt liegt leicht erhöht eine kathedralengleiche Kirche.

Ich habe bisher noch keinen Pilger getroffen aber in das Gästebuch der Kirche hat sich gestern eine Deutsche Pilgergruppe eingetragen, die eine Reliquie aus dieser Kirche abzuholen beabsichtigt. Soweit meine bisher spannendste Erfahrung mit anderen Pilgern.

Weiter geht es zu meinem heutigen Ziel nach Martigny. Schon kurz hinter St. Maurice fängt es wieder an zu nieseln. Der Regen begleitet mich die nächsten dreieinhalb Stunden bis nach Martigny. Auch wenn es nicht stark regnet, so werde ich auf Dauer doch ganz schön nass. Aber meine Ausrüstung bewährt sich im Regen und meine Haare bieten ebenfalls hinreichend Schutz. Im Regen stehen und liegen Kühe und sehen auch nicht gerade glücklich bei diesem Wetter drein. Ich hoffe das gerade zur Welt gekommene Kälbchen erkältet sich nicht gleich.

Dann erreiche ich nach 7 Stunden und knapp 37 km Martigny. Der Stadteingang wird von einer Holzbrücke über die Rhone markiert.

Ich durchwandere das Zentrum der Stadt und besichtige durchnässt, wie ich bin, die Kirche, da ich weiß, dass angekommen im Hotel ich mich nicht mehr aufraffen werde, die Stadt zu besichtigen. Ich bin heute bis an meine Grenzen gegangen. Morgen muss ich es etwas ruhiger angehen lassen, bevor es hoch auf den Großen St. Bernhard geht.

Nach dem Duschen muss ich zu meinem Leidwesen feststellen, dass ich mir doch tatsächlich am rechten Fuß an der längsten meiner Zehen eine Blase eingehandelt habe. Na toll trotz Hirschtalgcreme! Ballen und Fresen sehen aber gut aus – wenigsten etwas.

Tag 2: 05.05.17

 

Bei Sonnenschein sieht alles schon viel besser aus: nicht nur die Sicht ist fantastisch sondern es läuft sich auch viel angenehmer. Heute tun mit die Beine erst ab Kilometer 20 weh. Der Körper hat noch Nachholbedarf und muss einiges an Muskelkraft bis zu den wahren Bergetappen aufbauen. Aber bis dahin sind es noch 3 oder 4 Tage.

Wie schon auf dem Camino beschäftige ich mich in den ersten Tagen mehr mit meinem Körper als mit irgend welchen anderen Fragen. Ich bin so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass mein Kopf nicht frei ist, um auf andere Gedanken zu kommen.

Zurück zum Weg: Heute laufe ich zumeist am Ufer von Vevey über Montreux bis nach Villeneuve entlang des Genfersees mit tollen Plantanenalleen vorbei an der einen oder anderen Burg.

In Villeneuve habe ich das Ostufer des Sees erreicht und nun geht es das Rhonetal Flussaufwärts. Meist verläuft der Weg im Tal aber hin und wieder geht es hinauf in die Weinberge. Daher werde ich mir zum Abendessen dann auch einen Pinot Noir aus den Weinbergen von Aigle gönnen.

In den Weinbergen hoch über Aigle komme ich in der Sonne, die heute ununterbrochen auf mich hinab scheint, ganz schön ins Schwitzen. An einem Brunnen, obwohl ich Aigle schon sehen kann, mache ich Halt und trinke gierig mehr als einen Liter von dem frischen Wasser.

In Aigle mache ich nach genau 28 km Schluss für heute. Meine Fresen schmerzen, meine Oberschenkel signalisieren, es reicht jetzt – auch will ich mich nicht schon jetzt völlig verausgaben. Es liegen ja noch immer fast 1.200 km vor mir.

 

Tag 1: 04.05.2017

 

Na das fängt ja gut an: es regnet den ganzen Tag und meine Beine und Füße nehmen mir die gut 30 km von Lausanne nach Vevey echt übel. Mir fehlt mal wieder die nötige  Muskulatur. Ich hoffe sie wird sich schnell aufbauen.

Der Weg durch Lausanne ist nicht wirklich prickelnd: es geht entlang einer Bahnlinie, durch Industriegebiete bis am Ende der Stadt der Weg endlich das Ufer des Genfersees erreicht. Aber auch die schönste Landschaft wirkt bei Regen trist.

Vom Ufer aus sieht man eine Vielzahl von herrschaftlichen Villen – natürlich aber auch renovierungsbedürftige Häuser mit kleineren und größeren Grundstücken. Später führt der Weg weg von dem Ufer in die Weinberge, von wo man einen fantastischen Blick auf Vevey und den See hat.

In Vevey suche ich mir ein Hotel und werde direkt am Ufer fündig. Es ist ein kleines Haus – eine Hostellerie. Wie auch schon in Lausanne sind die Zimmer teuer dafür klein und spärlich ausgestattet. Auch die Restaurants sind extrem teuer.

Genug gejammert! Ich bin satt, kann in meinem Zimmer relaxen und Morgen soll’s schön werden.

Hier meine wichtigsten Daten von heute:

03. Mai 2017

 

So nun geht es los! Mit dem Zug geht es von Mannheim mit Umsteigen in Bern nach Lausanne. Dort beginnt meine Pilgerreise auf der Via Francigena nach Rom.

Das Wetter in Lausanne ist sonnig aber dennoch recht frisch. Vom Bahnhof laufe ich zunächst hoch zur Kathedrale. Als ich diese betrete werde ich von lauter Orgelmusik empfangen. Zwei Orgelspieler üben sowohl klassische Stücke als auch Kirchenmusik. Die Orgel ist beeindruckend laut. Die Kathedrale ist hell und freundlich gestaltet mit wunderschönen Fenstern.

im rechten Seitenschiff ist ein Tisch für Pilger aufgestellt. Dort erhalte ich meinen ersten Stempel in meinen Pilgerpass. Ich trage mich in das Pilgerbuch mit einem kurzen Gruß ein: „Hier beginnt mein Weg – Rom ich komme!“

Danach gehe ich ins Hotel. Ich hatte mir schon vor einigen Wochen ein Zimmer im Tulip, Lausanne gebucht.